Sie hatte es noch nie unter die ersten 30 geschafft, war im Weltcup nie etwas anderes als Riesenslalom gefahren, als Sofia Goggia an der WM 2013 in Schladming auf Rang 4 im Super-G preschte – ein Rennen am Limit, mit zahlreichen Verschiebungen aufgrund des Nebels, auf dem Podium standen Fahrerinnen, welche die schwierigen Bedingungen mit ihrer Erfahrung meisterten: Tina Maze, Lara Gut, Julia Mancuso. Und dahinter: Goggia, in ihrem ersten Speedrennen auf diesem Niveau, einer Disziplin, in der es nicht wie in der Abfahrt ein Training gibt, sondern alles beim ersten Mal sitzen muss.
Es ist typisch Goggia: Immer auf dem Gaspedal. In ihrem Leben dreht sich alles um den Sieg – und um sie. Ihr erstes Wort sei «ich» gewesen, sagte sie einmal. Als Erwachsene war die Frau aus Bergamo nicht der einfachste Charakter im Umgang – für ihre Teamkolleginnen, für das Umfeld. Doch die Abfahrts-Olympiasiegerin von 2018 hat es nicht nur im Skisport zu Konstanz an der Spitze gebracht. Mit knapp 26 Jahren ist sie auch selbstreflektiert geworden und erzählt, wie sie es schaffen will, ein besserer Mensch zu werden.
Sofia Goggia, Ihr Ehrgeiz ist legendär. Waren Sie immer schon ein Erfolgsmensch?
Immer. Ich musste die Nummer 1 sein, beim Schwimmen, beim Kartenspiel. Ich hatte das in mir, aber mein erster Skitrainer hat es noch mehr aus mir rausgeholt. Nach jeder Stunde mit dem Skiklub mussten wir eine flache Passage überwinden. Und es gab keinen einzigen Sonntag, an dem ich dort nicht als Erste im Ziel war. Als ich mit sechs Jahren zum ersten Mal an einem Rennen für den Skiklub startete, hatte ich noch nicht einmal die Ziellinie überquert, als ich meine Mutter schon im Publikum suchte und fragte: «Ich habe gewonnen, nicht? Habe ich gewonnen?»
Kommt das von Ihren Eltern?
O nein, auf keinen Fall! Sie sind komplett anders. Mein Vater ist Ingenieur, meine Mutter lehrt Literaturwissenschaften. Mein Bruder ist auch Ingenieur, ein emotionaler Mensch, der zwar die Rennen am Sonntag fuhr, aber bloss aus Freude. Er hat mehr Leidenschaft fürs Skifahren als ich. Ich fahre gern, aber um besser zu werden und Rennen zu fahren, weil ich ein Ziel habe. Natürlich: Eine Woche Heliskiing in Kanada würde ich auch machen. Aber das ist eine andere Art des Skifahrens. Beim alpinen Skifahren lebe ich den Schnee durch den Wettkampf. Sonst machts für mich keinen Sinn.
«Ich muss mir immer wieder sagen, dass ich nicht bei allem, was ich tue, im Wettkampf bin»
Gibt es Bereiche in Ihrem Leben, wo Sie nicht auf Konkurrenz aus sind?
Wenn ich joggen gehe, weiss ich, dass ich eine schlechte Läuferin bin. Also bin ich da nicht ehrgeizig. Aber wenn ich etwas kann und vorn mitspielen kann, gebe ich alles.
Was brauchen Sie, um Ihre beste Leistung abzurufen?
Ich bin an einem Punkt meiner Karriere angelangt, an dem ich Harmonie brauche. Ich suche Harmonie und Synergie zwischen mir, meinen Teamkolleginnen und den Betreuern. Ich möchte eine gute, gesunde, ruhige Beziehung mit allen. Wenn du nach deiner Ethik und Moral lebst, bist du mit dir im Reinen und auch mit den Leuten in deinem Umfeld.
Was ist denn Ihre Ethik, Ihre Moral?
Ehrlich und respektvoll anderen und mir gegenüber zu sein.
Sie sagen: An diesem Punkt Ihrer Karriere suchen Sie Harmonie. War es mal anders?
Irgendwann kommst du an einen Punkt, an dem du dich selber besser kennen lernst. Du vertiefst gewisse Aspekte, die du nicht so als die deinen betrachtet hast. Zum Beispiel mit der Harmonie mit allen Leuten im Umfeld: Vielleicht habe ich das in den vergangenen Jahren gesucht, aber ich hatte den Schlüssel nicht, um das zu erreichen. Nun, wo ich älter werde und Erfahrungen sammle, entwickle ich mich in diese Richtung.
Hatten Ihre Verletzungen – Kreuzbandriss, Knöchelbruch – etwas mit Ihrer persön-lichen Entwicklung zu tun?
Natürlich kann dich eine Verletzung viel lehren. Aber schon das Leben an sich, das Älterwerden verändert dein Verhalten, wie du mit Menschen umgehst. Ich suche heute nach gesunden Beziehungen, die sonnenklar sind. Wenn du transparent bist, musst du nichts verstecken und es gibt keinen Grund, schmutzig zu spielen. Das ist eine Basisregel fürs Leben. Noch vor der Athletin bin ich ein Mensch. Und so versuche ich, als Mensch zu wachsen. Denn als Athletin bin ich bereits hier (hält die Hand hoch über den Kopf), und als Mensch will ich auch dort sein.
Mögen Sie Druck?
Ich weiss nicht. Manchmal spüre ich ihn stark, manchmal gar nicht. Wenn du willst, kannst du damit leben. Wenn du nicht damit leben möchtest, gehts um die Perspektive. An den Olympischen Spielen 2018 war ich schon vor der Goldmedaille so zufrieden mit mir selber. Ich sah den Druck in den Augen und den Gesichtern von anderen Fahrerinnen. Ich aber hatte keinen: Ich hatte alles gemacht, um in dieser Verfassung dort zu sein. Und so sagte ich mir: Geh einfach spielen. Und noch nie in meiner Karriere hat mir ein Lauf so Spass gemacht wie dieser. Alle sagten mir, dass ich viel Druck haben werde. Aber ich dachte: Ob ich Gold gewinne oder nicht – ich bin immer noch dieselbe Person. Wieso sollte ich den Druck spüren?
In Italien wird nur in einem kleinen Teil des Landes Ski gefahren. Wie populär ist der Sport zurzeit?
Es geht nicht darum, mir selbst auf die Schulter zu klopfen, aber seit drei Jahren hat es wirklich einen Sprung gemacht. «Il sole 24 ore» ist eine Wirtschaftszeitung, und am Ende der Olympiasaison 2018 stand in einem Artikel: Der Effekt von Goggia und dem Team – 220 000 Paar Ski und Schuhe wurden wegen mir, Dominik Paris und Federica Brignone verkauft. Nach Alberto Tomba und Deborah Compagnoni verlor Italien seine Leidenschaft fürs Skifahren. Aber seit drei Jahren findet es wieder dahin. Ich bin ziemlich stolz darauf, dass ich meinen kleinen Teil dazu beitragen kann.
Und Sie persönlich werden auch anders wahrgenommen?
Seit ich Olympiasiegerin bin, stehen mir viele Türen offen. Vorher bist du niemand, dann plötzlich ein Champion. Gleichzeitig ist es nur eine Medaille, ich bin ja immer noch dieselbe Person. Aber okay, ich bin hier und dort eingeladen, in den Restaurants muss ich nicht bezahlen, auf der Strasse halten mich die Leute an. Es gab eine Nacht in Mailand, als das Weingut Ferrari Trento mich an eine Party einlud. Da waren alle Chefs mit den Stars von Milan, und alle wollten mich einladen. Ich schwöre: Ich gelangte nicht mal in den grossen Saal der Party, sondern kam eineinhalb Stunden lang keine zehn Meter weit, weil alle mit mir reden wollten. Es dreht sich plötzlich alles um einen.
Wird es da nicht schwierig, nicht abzuheben?
Nein. Wie gesagt: Vor der Athletin bist du immer ein Mensch. Und ich habe das Glück, dass ich eine Familie hinter mir habe, die mich das lehrte. Mein Vater sagte mir immer: Verliere dein Herz nicht! Definiere dich nicht dadurch, was du hast, sondern wer du bist! Danke für den Ratschlag, ich habs kapiert. Ich versuche wirklich, eine bessere Person zu sein. Denn manchmal überlagert das Wachstum der Athletin das Wachstum des Menschen. In den vergangenen Jahren gab es diese Lücke zwischen den beiden, als ich mich als Sportlerin enorm entwickelte, aber als Mensch nicht. Nun möchte ich diese Lücke kleiner werden lassen.
Sie sagten einmal, dass Sie Ihr Ego mindern müssen. Denn dies sei als Sportlerin bis zu einem gewissen Punkt ein Vorteil, danach aber eine Schwäche. Wie arbeiten Sie daran?
Indem ich versuche, eine nette Person zu sein. Indem ich meiner Ethik folge, das Kämpferische der Athletin im normalen Leben nicht beibehalte. Ich muss mir immer wieder sagen, dass ich nicht bei allem, was ich tue, im Wettkampf bin. Ich bin im Leben nicht allein wie im Starttor. Sondern von Menschen umgeben. Und ich möchte die anderen so behandeln, wie ich wünsche, dass sie mich behandeln. Das ist Karma. Es sind kleine Dinge.
Sind Sie eine spirituelle Person?
O ja, sehr. Wenn ich in mir selber ruhe, finde ich alles. Ich habe einen Brunnen an Energie in mir selber. Ich muss tief in mich gehen, mich selber spüren und in dieser Zone bleiben. Dann kann ich grossartige Sachen machen. Da bin ich nah an meinen Gefühlen.
Sie wollten mal Philosophie studieren.
Ja, das hätte ich wirklich gern gemacht. Ich studierte dann Politikwissenschaften, aber seit zwei Jahren ist dafür leider keine Zeit mehr. Die Philosophie hätte mich sehr gereizt, weil du dir da sehr viele existenzielle Fragen stellst. Und vielleicht findest du die Antworten. Aber das sind nicht Fragen, die sich eine Athletin stellen sollte. Sonst schwebst du mit deinem Kopf davon, und das ist nicht gut fürs praktische Leben, für den Spitzensport. Das passt nicht wirklich zusammen. Aber sich selber manchmal zum Sinn des Lebens zu befragen, wie man sich selbst findet, das ist okay. Mit einem guten Glas Wein und Freunden – aber am Morgen stehst du wieder im Kraftraum und hast keine Zeit mehr für solche Fragen. Es sind zwei völlig verschiedene Leben, aber ich bin ein bisschen von allem etwas.
Wie entspannen Sie sich?
Mit Meditation, was ich fast täglich mache, wenn es die Zeit zulässt. Ich höre Musik, auch Klassik. Und Hörbücher. Kürzlich hörte ich «Die Apologie des Sokrates» und eine Biografie von Napoleon oder «American Pastoral» von Philip Roth, während ich auch das Buch las. Das mache ich ziemlich oft. Ich höre aber auch Podcasts über die Quantenverschränkung. Also wirklich alles. Je mehr ich bekomme, desto besser.
In diesem Winter gibt es keinen Grossanlass. Wie gehen Sie eine solche Saison an?
Es liegen drei Jahre mit Grossanlässen hinter uns, zweimal WM und einmal Olympia, und ich habe überall eine Medaille geholt. In der italienischen Mentalität zählen Medaillen wie nichts Anderes. Gleichzeitig aber wird in diesem Winter alles andere wichtiger. Eine Saison des Wachstums.
Danach folgen zwei Höhepunkte in Ihrem Heimatland: Die Ski-WM 2021 in Cortina und die Olympischen Winterspiele in Mailand und Cortina 2026. Ist es das Ziel, dort mit 33 noch dabei zu sein?
Ich würde dann wie Lindsey Vonn in Pyeongchang sein, und sie hat eine Bronzemedaille gewonnen, also wieso nicht? Ich liebe es, in Cortina Rennen zu fahren, vor meinen Leuten, und ich liebe Cortina einfach.