Wenn sie sich zeichnen müsste, dann würde sich Corinne Suter auf der Erde zeichnen. Mit beiden Füssen auf einer Wiese. «Irgendwie würde ich meine Bodenständigkeit symbolisieren», sagt sie. «Wahrscheinlich würde ich auch eine Sonne zeichnen, die aus meinem Körper strahlt.» Und Blitze aus dem Kopf? Wohl nicht. Obwohl: Manchmal, sagt sie, wenn nichts ging, war ihr Ärger so gross, dass sie grob war. Verletzend. Gegenüber anderen und sich selbst. Da war die Luft geladen. Die Sonne und Wärme würden auf ihrem Bild trotzdem vorherrschen. «Und irgendwo würde ich die Ski zeichnen.»
Seit Februar gehört sie zu den Besten der Welt. Eigentlich war das schon davor so. Nur wird Weltklasse für gewöhnlich in Podesten und vor allem Medaillen gemessen. Und Suter liefert – nach einer brillanten Karriere bei den Juniorinnen mit zwei Weltmeistertiteln – lange vor allem die Plätze, die sie zur Weissglut treiben. Always the bridesmaid, never the bride, heisst ein englisches Sprichwort. Nie findet sie das Glück. Oder das Glück sie. Bis im Februar. An der Weltmeisterschaft im schwedischen Åre gewinnt sie Bronze im Super-G. Nur fünf Hundertstel fehlen für den Sieg. Fünf Tage später holt sie auch noch Abfahrtssilber. «Wenigstens konnte ich mal zeigen, was ich im Training gefahren bin», sagt Suter im Zielraum nach dem ersten Coup. Sie sagt «wenigstens». Das passt zu ihr. Die Tränen laufen ihr über die Wangen. Ein Moment zum Einrahmen. Endlich ist sie schnell genug.
Schneller. Besser. Das zieht sich durch ihr Leben. Neben dem Skifahren reitet sie, macht Leichtathletik. In der Primarschule wird sie «schnellste Schwyzerin». Wo sie antritt, will sie gewinnen. «Eine schlechte Note in der Schule ging gar nicht. Keine Ahnung, warum ich so ehrgeizig wurde. Meine Eltern waren keine Perfektionisten.» Corinne Suter, das Kind vom Land. Aufgewachsen neben einem Bauernhof. Wenn sie nicht reitet, hilft sie. Beim Heuen, beim Ausmisten. Sobald Schnee liegt, ist sie auf den Ski. «Ich bin zehn Minuten von der Skipiste entfernt aufgewachsen, war jede freie Minute auf den Pisten bei der Ibergeregg.» Sie misst sich mit den zwei älteren und dem jüngeren Bruder. «Wir haben uns gejagt, kleine Kunststücke gezeigt. Mit drei Brüdern musste ich lernen, mich durchzusetzen. Den Ehrgeiz und die Härte habe ich auch durch den Umgang mit meinen Brüdern. Ich kann unglaublich gut beissen, wenn ich etwas will.»
Es ist erstaunlich, wie früh Suter ihren Weg zum Spitzensport vorgezeichnet sieht. Als sie in die Oberstufe wechselt und es dort in die Talentklasse schafft, ist für sie alles klar. Die schwierigen Phasen kommen erst später. Im Sport-Internat in Engelberg etwa. Sie erinnert sich an das Heimweh, das sie plagte. Die Tränen, die sie vergoss, zwei Stunden Zugfahrt von daheim. «Aber Zweifel, ob es langt, ob es das Richtige ist, hatte ich nie.»
Suter ist eine Getriebene. Und – vor allem früher – überhart mit sich. «Und auch mit anderen. Ich redete zum Teil einen Tag lang mit niemandem mehr, wenn die Resultate nicht stimmten. Für meine Familie war das schwierig. Sie fuhren mich zu den Rennen, machten alles. Wenn es schiefging, tauchte ich ab. Sie wussten oft nicht einmal, wo ich war.» Die Energie fehlt ihr in solchen Momenten. Auch Tage danach trägt sie Fehler wie schwere Steine mit sich herum. «Ich fluchte auch vor mich hin. Wenn ich bei der Besichtigung alles gesehen hatte, es dann nicht umsetzen konnte, machte ich mich richtig fertig. Das gibt’s auch heute noch. Klappt es nicht nach Wunsch, brauche ich danach zehn Minuten für mich. Die Trainer lassen mich allein.
Ich sage mir alles, ziehe einen Schlussstrich, dann ist es vorbei.» Sie hat sich eine Zeit eingerichtet, wo alles rauskann, was aus dem System muss. Die Gespräche mit Trainern und dem Mentaltrainer helfen, den Frust zu bändigen, nicht an andern auszulassen. «Mir war auch lange nicht bewusst, wie verletzend ich sein konnte.» Auch gegenüber Serviceleuten. Manchmal braucht es dazu nicht einmal Worte. Ein Blick reicht. Oder eben keiner. Schweigen und aus dem Raum gehen.
Corinne Suter rollt mit den Augen. Nicht nur das Skifahren, auch der Umgang mit den Emotionen ist über die Jahre ein ständiger Lernprozess. Und nicht alles ist planbar. Manchmal braucht ein Mensch auch einfach etwas Glück. Wie im Sommer 2018 etwa, als sie Blutergüsse an den Zehen von einer Physiotherapeutin aufstechen lässt, sich der rechte Fuss darauf entzündet. Erst als ein roter Strich zu sehen war, sendet sie dem Swiss-Ski-Chefarzt Walter O. Frey ein Bild davon. Er schickt sie sofort in den Notfall. Diagnose: Blutvergiftung. Zwei Tage liegt sie im Spital am Antibiotika-Tropf. Wäre sie einen Tag später gekommen – was sie zunächst plante – wäre eine Fuss-Amputation wohl unvermeidlich gewesen. «Erst in den Ferien nach der Saison wurde mir so richtig bewusst, wie viel Glück ich hatte», sagt sie. «Im Notfall liess ich sogar noch eine Frau vor. Ich sagte: Sie sehen schlimmer aus, ich habe es nicht so eilig.»
Sie hat verrückte Monate hinter sich. Und ermüdende. Die Zeit nach der WM empfindet sie als zähe Tour. Empfänge, Schulklassen vor dem Haus, wildfremde Leute, die sie früher nie grüssten, gratulieren überschwänglich. «Es war nett gemeint. Aber weil ich überall mitmachte, auch zu viel. Bis ich vor Erschöpfung krank wurde.» Noch einmal soll ihr das nicht passieren. Sie will resoluter sein. Nicht alle zufriedenstellen. Nicht die, welche immer zu allem bereit ist. «Irgendwann muss man herausfinden, was wichtig ist im Leben. Ich bin nett. Aber ich darf auch Nein sagen.» Sie hats gern harmonisch. Aber man merkt, sie kann auch anders.
Der Lernprozess ist permanent. Und auf vielen Ebenen. Suter hat gelernt, dass sie andere nicht kopieren muss, um erfolgreich zu sein. «Ich hatte früher das Gefühl, was für die anderen stimmt, passt auch für mich. Aber das war ein Trugschluss.» Sie geht mittlerweile ihre eigenen Wege, braucht wenige Leute
um sich herum. Manchmal tut ihr etwas Abstand von der Gruppe gut. «Früher war ich immer und überall dabei. Jetzt muss ich gar nichts mehr. Ich muss nichts.»
«Früher war ich immer und überall dabei. Jetzt muss ich nichts mehr, ich muss nichts»
«Ich darf nicht verkopfen.» Vor dem grossen WM-Erfolg sagt sie diesen Satz immer wieder. Lange ist sie die Trainingsweltmeisterin, die sich vor Rennen verrückt macht. Tausend Details, die in Gedanken wie auf einem nervigen Jahrmarktkarussell drehen. Alle zehn Sekunden sind dieselben da. Mittlerweile ist sie lockerer geworden. Kann den Kopf frei halten. Konzentriert bleibt sie trotzdem. Bei jedem Training setzt sie sich zwei bis drei Ziele. Bevor sie sie erreicht hat, redet sie nicht viel. «Es gibt auch Liftfahrten, wo der Servicemann weiss: Jetzt darf ich nichts sagen. Kein Wort.» Im Rennmodus muss sie locker bleiben. Sie redet vor dem Start mit Leuten, dann hört sie Musik. Wenn sie das Piepsen im Starthaus vernimmt, dann zählt es. Dann gehen bis ins Ziel keine Gedanken mehr durch. Und dort weiss sie oft nicht, was sie denken soll. Weil sie sich kaum mehr an den Lauf erinnert. Sie sieht ihn nur durch einen Schleier.
Hat der Erfolg alle Blockaden gelöst? «So einfach ist es nicht. Aber der Druck, den ich mir selber immer machte, ist weg. Wenn ich einen schlechten Tag habe, kann ich mir sagen, dass ich schon etwas erreicht habe. Ich mache mich nicht mehr so lange fertig.»
Sie weiss, dass sie früher viel zu viel mit sich herumtrug. «Als die erste Medaille da war, traute mir mein Trainer nie zu, nochmals zuzuschlagen. Weil er mich so nicht kannte.» Aber für Corinne Suter ist die erste Medaille eine Befreiung. Als sie am 10. Februar im Starthaus zur WM-Abfahrt steht, weiss sie: Ich kann das immer noch! «Ich war mit mir im Reinen.»