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Ski Alpin

«Wenn ich fuhr, war ich frei»

Er war das Enfant terrible des Skisports – aber einer der Besten. Bode Miller sagt, wieso er nie schön Ski fahren wollte, was er im Sport fürs Familienleben gelernt hat – und was ihm an den heutigen Athleten fehlt.

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SOLDEN, AUSTRIA - DECEMBER 21: Alpine race skier Bode Miller is photographed on December 21, 2010 in Solden, Austria. (Photo by Kai Stuht/Contour by Getty Images)
Contour by Getty Images

Immer auf der Kippe. Ein Bode Miller lässt sich nie davon abhalten, das zu tun, was er für richtig hält. Nicht vom Ausgang am Abend vor einem WM-Rennen – wenn er Lust auf Bier und Freunde hat, ist das halt so. Nicht davon, in einer Kurve alles zu riskieren – bereits als Kind gab es nur Sieg oder Ausscheiden. Und nicht davon, stets das zu sagen, was er denkt – auch wenn er sich damit mit Funktionären, Sponsoren oder anderen Fahrern anlegte. Zwang ist ihm zuwider. «Ich befolge keine Ratschläge und keine Befehle.»
Doch wenn er fuhr, blieb der Blick fasziniert hängen an diesem Ritt zwischen Genie und Wahnsinn. Und die Geschichten und Gerüchte trugen nur zur Beliebtheit des vierfachen Weltmeisters bei. Die ihm allerdings nichts sagte.
Beim Interview in einer Berghütte im Trentino gibt der naturverbundene 41-jährige US-Amerikaner Einblick in seine Gedankenwelt. Und ist heute entspannter denn je. Als sechsfacher Vater ist er hauptsächlich für die Familie da, an Grossanlässen noch Experte fürs amerikanische Fernsehen sowie für ein paar Partner unterwegs.

SOLDEN, AUSTRIA - DECEMBER 21: Alpine race skier Bode Miller is photographed on December 21, 2010 in Solden, Austria. (Photo by Kai Stuht/Contour by Getty Images)

Immer ein bisschen anders: Miller verkürzt sich eine Pause mit Lesen.

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In Ihrer Biografie sagen Sie: Spass ist die Basis allen Glücks. Ist das zwölf Jahre später immer noch Ihr Lebensmotto?
Ich bin mehr oder weniger noch damit einverstanden. Einige Leute glauben, Spass sei etwas, das ihnen passiert. Ich meine aber mehr die Haltung zu Dingen oder wie du etwas tust. Hier zum Beispiel könnte man rumlaufen und frieren und sauer sein (Anm.: Der Weg zur Alphütte führte zu Fuss durch einen Schneesturm). Und ich laufe und habe Freude an der Natur. Ich kann in vielen Situationen geniessen. Es ist mehr das damit gemeint, als dass ich Spass als Unterhaltung definieren würde.  

Wie leben Sie Ihr Faible für Geschwindigkeit heute aus?
Gar nicht. Ich fahre ziemlich entspannt Ski. Es geht mir mehr ums Gefühl als um die Geschwindigkeit, ich liebte den Slalom ebenso wie die Abfahrt. Heute ist das nicht viel anders. Wenn der Schnee gut ist, fahre ich etwas schneller und mit schmaleren Ski. Bei tiefem Schnee nehme ich breite Ski und fahre schön gemütlich. 

Ihr Rennstil war spektakulär. Wie fühlt es sich an, wie Bode Miller zu fahren?
Schwierig, das in Worten zu beschreiben. Ich bin von Natur aus keine extrovertierte Person. Ich mag es nicht, wenn Leute mich anschauen, ich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe. Wenn du Ski fährst, stehst du aber im Mittelpunkt. Während der Fahrt sind alle Augen auf eine Person fokussiert. Ich versuchte während der Fahrt nicht, cool zu sein oder gut auszusehen. Schon als Junge habe ich gemerkt, dass ich das nicht kann. Ich musste machen, was ich konnte: Vollgas geben, auch wenns schlecht aussieht. 

Hat Sie das nicht gestresst?
Für mich persönlich war das okay, ja sogar etwas Gutes: Ich fühlte mich frei. Es machte mir nichts aus, wenn jemand sagte, das sehe komisch aus. Oder dass ich schlecht Ski fahre. Denn ich wusste, dass ich schnell sein kann. Das war mein Mass. Mit der Zeit machte das sogar richtig Spass. Als ich besser wurde, hätte ich mich wohl irgendwann mehr in die Richtung entwickeln können, wo es gut aussieht. Aber es hätte mich langsamer und mir oder den Zuschauern auch nicht mehr so viel Spass gemacht. Ich habe nicht so viele Rennen gewonnen, wie ich gekonnt hätte, ich machte zu viele Fehler. Aber ich war immer sehr frei, wenn ich Ski fuhr. Ich traf meine eigenen Entscheidungen und lebte mit den Konsequenzen.   

Sie mögen «ehrliche» Skifahrer, die in einem Lauf alles geben. In welchen Fahrern sehen Sie diese Haltung heute?
Das ist das Problem: Ich sehe das nicht sehr oft. Als letztes vielleicht in Thomas Dressen, dem deutschen Jungen, in Beaver Creek 2017. Es sah wirklich so aus, als würde er voll gehen. Seine Fertigkeiten und seine Form sind gut, also hat es nicht so verrückt ausgesehen wie bei mir. Aber ich konnte die Intensität sehen, den Antrieb, alles hineinzuwerfen. Skifahren ist in dieser Hinsicht subtil, mehr wie Kunst oder Musik. Ein Teil davon muss vom Individuum kommen. Es können nie zwei Personen gleich Ski fahren, auch wenn sie es versuchen. Dieser Teil fehlt heute vielen Fahrern. Es sieht gut aus, und sie sind schnell, und irgendwer gewinnt, klar. Aber du siehst nicht so viel vom Ausdruck des Athleten. 

Kann man den lernen?
Ja, sicher. Man muss aufhören, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Leute einen sehen. Sondern komplett roh sein. Frei. 

Vermissen Sie die Herausforderung der Rennen, den Wettstreit?
Nein. Ich bin so viele Rennen gefahren, ich hatte genügend Herausforderungen. Es ist ein massiver Stress, so lange Rennfahrer zu sein wie ich: die Vorbereitung, und dann so viele sehr entscheidende Dinge gleichzeitig auszuführen. Gegen Ende der Karriere wünschte ich mir manchmal, mehr Zeit zu haben. Ich dachte am Start: Ich brauche noch zehn Minuten (lacht). Aber die hast du nicht. Wenn du dran bist, musst du gehen. Und das ist kein gutes Gefühl.

05.02.2015; Vail; Ski alpin - Weltmeisterschaften Vail Beaver Creek 2015 - SuperG Herren; Sturz von Bode Miller (USA) (Johann Groder/EXPA/freshfocus)

WM Vail 2015. Millers letzter Auftritt im Skizirkus endet typisch: mit einem spektakulären Sturz im Super-G.

Kai Stuht

Wo finden Sie in Ihrem heutigen Leben Herausforderungen?
Normalerweise sorgen meine Kinder dafür. In meinem Leben dreht sich zurzeit vieles um sie, was schön ist. Manchmal kann man Fertigkeiten aus dem Sport in anderen Bereichen anwenden, manchmal funktioniert das nicht. Mit vier Kindern und einer Frau versuchst du die ganze Zeit, irgendetwas zu verstehen. Du musst mit all den unterschiedlichen Persönlichkeiten, Stundenplänen und Ansprüchen fertig werden, und das braucht viel von denselben Fähigkeiten wie im Sport: tonnenweise Geduld und Optimismus.  

Hatten Sie wie viele andere erfolgreiche Sportler Mühe damit, nach ihrem Rücktritt den Weg ins normale Leben zu finden?
Im Gegenteil. Vieles, womit ich mich während meiner Karriere beschäftigen musste, war für mich eine Last. Das Skifahren war toll. Aber den Geschäftsteil mochte ich nicht, ebenso wenig den Medienteil (lacht entschuldigend). Als ich aufhörte, war es eine grosse Erleichterung, dass ich mich für eine lange Zeitspanne nicht mehr damit beschäftigen musste. Keine Startnummernauslosung mehr zum Beispiel. Dass ich in die Familie eingebunden war, half auch. Und: Ich war für eine lange Zeit einer der Topfahrer, aber als ich aufhörte, war ich es nicht mehr wirklich.  

«Skifahren ist in dieser Hinsicht subtil, mehr wie Kunst oder Musik. Ein Teil davon muss vom Individuum kommen. Es können nie zwei Personen gleich Ski fahren, auch wenn sie es versuchen»

Sie haben immer Ihr Ding durchgezogen und nicht viel darauf gegeben, was andere davon hielten. Denken Sie, das ist heute immer noch möglich – mit dem Druck von Sponsoren und in Zeiten von Social Media?
Ja, das glaube ich. Es war ja nicht so, dass damals normal war, was ich tat. Es war auch für mich nicht einfach. Ich war allein in meinem Wohnmobil, das fanden die Leute zu dieser Zeit verrückt. Ich musste mich also bei vielen Dingen abmühen. Heute kann man sagen: Bode hat das auch getan. Und nicht nur ich: Daron Rahlves oder Julia Mancuso haben gewisse Dinge ähnlich gemacht. 

Welche wichtigen Lektionen lernten Sie im Sport, welche im Leben?
Die Selbstständigkeit war wohl die wichtigste im Skifahren, im Sinne von Unabhängigkeit. Ich sah das, als ich jung war, auch wenn ich es wohl nicht von Beginn weg verstanden habe. Kinder verlassen sich auf die Eltern, die Trainer. Aber in einem Rennen zwischen den Toren bist du allein. Nur du bist verantwortlich dafür, was passiert. Jeder aber möchte den Stress verteilen. Doch meine Trainer mögen mir gestern geholfen haben oder wenn ich im Netz liege, aber im Rennen ist es mein Job, meine Verantwortung. Es war gut, dass ich das in jungem Alter herausfand. Denn ich sah viele Kinder, die damit kämpften: In ihrem Kopf war es die Schuld des Trainers – weil das Training nicht gut genug war oder dies oder das. Das ist eine Lektion, die fürs ganze Leben zählt. 

Wie können Sie das aufs normale Leben übertragen?
Wenn ich mit jemandem Streit habe, denke ich: Wenn ich besser wäre, ich etwas anders gemacht hätte, würde es vermutlich keinen Streit geben. Es gibt immer einen Teil, für den du voll und ganz selbst Verantwortung übernehmen kannst. Es stimmt nicht wirklich, dass es immer zwei Menschen für einen Streit braucht. Wenn eine Person ihren «shit together» hat, kann sie alle Probleme lösen. Das war die relevanteste Lektion. 

Und sonst?
Geduld und Toleranz. Toleranz ist bei unabhängigen Athleten oder Menschen keine so natürliche Sache. Denn du musst die Art von anderen tolerieren, die Unterschiede und wie sie handeln. Im Sport musst du mit Medien, Trainern und so weiter klarkommen – und das lernte ich mit der Zeit. Aber in einer Familie oder Ehe ist es anders. Der Vorteil ist, dass du diese Menschen sehr liebst, während das bei einem Trainer nicht der Fall sein muss. Es ist schwerer, etwas bei jemandem zu tolerieren, mit dem du keine gute emotionale Beziehung hast. Aber im Leben alles zu tolerieren, was Kinder und Ehefrau betrifft, braucht viel Geduld. Du lernst verschiedene Methoden der Verarbeitung. Ich konnte immer warten, die Dinge durchdenken und erst dann handeln. 

SOLDEN, AUSTRIA - DECEMBER 21: Alpine race skier Bode Miller is photographed on December 21, 2010 in Solden, Austria. (Photo by Kai Stuht/Contour by Getty Images)

Mit seinen legendären Bussen und Wohnmobilen tourte Bode Miller jahrelang durch Europa von Rennen zu Rennen, hier in Sölden 2010 (links). In den Verbandsstrukturen fühlte er sich gefangen.

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«Toleranz ist bei unabhängigen Athleten und Menschen keine natürliche Sache. Im Sport musst du mit Trainern, Medien und so weiter klarkommen – da habe ich Geduld und Toleranz gelernt»

Macht Alter weise?
Nicht automatisch. Ich glaube, ich bin während meiner Karriere während einer langen Periode sicher nicht weiser geworden, vielleicht acht Jahre lang. Aber nach dieser Zeit – sagen wir mal, ich war bei einer 5 oder 6 auf der Weisheits-Skala bis 10 – kannst du darauf zurückblicken und sehr viel rascher weiser werden. Du reflektierst deine Handlungen, deine Reaktionen. Und ein Teil der Weisheit kommt daher, wirklich zu verstehen, was ist, was war, was hätte sein können. Erst dann kannst du sagen: Oh, ja, das war dumm. Aber es gibt auch Leute, die viel jünger sind und ihr eigenes Verhalten trotzdem viel schneller analysieren können – oder überhaupt nie weiser werden. 

Hat es Sie interessiert, was Ihre Popularität mit dem Skisport in den USA gemacht hat?
Nein, überhaupt nicht. Mir gefiel es sogar, dass das Skifahren in den USA nicht populär war, so musste ich mich nicht mit demselben Zeugs abgeben wie Baseball- oder Footballspieler. In Europa musste ich das auch tun, aber immerhin konnte ich nach Hause gehen. Hermann Maier musste sich die ganze Zeit mit dem Drum und Dran beschäftigen, er konnte nicht davor flüchten. Ich glaube allgemein nicht, dass die Sportkultur sehr gesund ist. Ich denke, der Skisport war am besten, als er noch nicht im Fernsehen kam, wie bei diesen Old-School-Skifahrern, die man von Bildern kennt. Dort war der Sport wahrscheinlich in seiner besten Form.  

Wie meinen Sie das?
Alle Sportarten waren besser, als sie amateurhafter waren. Das Mass an Erfüllung, das der Athlet bekam. Das Leben nach dem Sport war besser, wenn sie vorher nicht bezahlt wurden. Aber das ist auch scheisse – denn von irgendwas musst du ja leben (lacht). Ich finde, ein Sportler sollte nicht 100 Millionen Dollar dafür bekommen, Sport zu machen. Das ist Teil des Problems. Es ist einfach nicht richtig. Klar, im Ski kannst du nicht so viel Geld machen. Ich war lange an der Spitze und habe nicht wahnsinnig viel verdient. Aber das Business und das Geld sind wirklich problematisch für den Sport.

Wie sehen Sie die Entwicklung im Skisport? Die FIS versucht, mit den Parallelrennen und so weiter neue Wege zu gehen.
Ich finde, dass das Fehler sind. Aber ich glaube auch nicht, dass es eine einfache Lösung gibt. Die Wurzel des Problems ist die Motivation der Athleten. Die FIS kann alles sein – du kannst auf Holzski fahren und das Skifahren kann immer noch fantastisch sein. Aber es muss vom Athleten kommen. Einigem davon liegt auch das Geld zugrunde. Die Athleten wollen sich nicht verletzen, weil es zu teuer ist. Sie verlieren Geld. Natürlich will ohnehin niemand verletzt sein, aber das ist ein Teil davon. Wenn du dich nicht verletzt, ist die Chance besser, deinen Unterhalt zu verdienen. Ich war seit Anfang nie damit einverstanden, wie die FIS Dinge tut.

UNITED STATES - SEPTEMBER 08: Alpine Skiing: Winter Olympic Preview, USA Bode Miller in action, running 200 yard sprints and pushing 600lb roller during training, Franconia, NH 9/8/2005 (Photo by Simon Bruty/Sports Illustrated via Getty Images) (SetNumber: X74213 TK1 R1)

Mit seinen legendären Bussen und Wohnmobilen tourte Bode Miller jahrelang durch Europa von Rennen zu Rennen, hier in Sölden 2010 (links). In den Verbandsstrukturen fühlte er sich gefangen. Zu Hause in den USA trainierte er mit allem, was er fand – je härter, desto besser (u.).

Sports Illustrated via Getty Ima

Aber es ist doch normal, dass sich der Sport entwickelt.
Ich war einer der Ersten, die die Carving-Ski vorangetrieben haben. Die Evolution ist natürlich, aber was die FIS macht ist anders als die Evolution, die im Materialbereich passiert. Sie machen das Gegenteil. Als sie die Ski begrenzten, die Entwicklung der Technologie, was sie lange taten, hatte das negativen Einfluss auf alle, die Ski fahren. Auf die Ski-Industrie insgesamt. Dieses Handeln ist nicht umsichtig. Du kannst doch nicht genau den Bereich völlig einschränken, der das grösste Entwicklungsfeld einer Sportart ist! So lässt sich nichts entwickeln, da die Regeln für Radius, Höhe und so weiter gesetzt sind. Und dann wundern sie sich darüber, weshalb sich der Sport nicht bewegt! Es ist seit langer Zeit dasselbe. 

Wer war für Sie der grösste Skifahrer?
Meiner Meinung nach gibt es keinen guten Weg, einen zu bestimmen. Es gibt gute Argumente, wie die meisten Weltcupsiege von Ingemar Stenmark. Aber er fuhr nie Speed-rennen (siehe Box rechts). Für mich ist Skifahren eine umfassendere Sache als nur Weltcupsiege. Es gehört auch dazu, welchen Einfluss jemand auf den Sport hatte, was er für das Niveau des Wettkampfes tat. Dann sind da die Skifahrer, die in allen fünf Disziplinen gewonnen haben oder die grosse Kugel mehrmals. Und ebenfalls ein Kriterium sollte die Länge einer Karriere sein. 

Von Eva Breitenstein am 8. November 2019 - 13:44 Uhr