Im Grunde genommen ist es kein Sprichwort, sondern ein Warnhinweis: «Wer London satthat, der hat das Leben satt.» Was Samuel Johnson im 18. Jahrhundert über die Themse-Metropole sagte, könnte heute nicht aktueller sein. Weltklasse-Museen und Pop-up-Galerien, edle Sterne-Restaurants und bodenständiges Streetfood, gemütliche Pubs und coole Underground-Bars, prächtige Shoppingmeilen und herzige Märkte – London hat alles und noch viel, viel mehr. Von dieser Stadt kann man einfach nicht genug kriegen! Meine Sucht begann vor mittlerweile 18 Jahren, als es mich direkt nach der Matura in die grosse Welt hinauszog – oder nach King’s Cross, um genau zu sein. Ein hartes Pflaster damals, was meine Eltern zum Glück nicht wussten. Heute muss man rund um Londons nördlichen Hauptbahnhof nur noch die Strassenseite wechseln, wenn man nach einem Besuch in der (übrigens phänomenalen) Gagosian Gallery noch Lust auf einen veganen Burger hat.
Vom Schandfleck zum Vorzeigeviertel – genau das macht die Faszination Londons aus: Diese elektrisierende Aufbruchstimmung, dieser ständige Wille zur Veränderung. Und genau deshalb ist mein Hunger bis heute nicht gestillt. Sicher einmal im Jahr zieht es mich in die britische Hauptstadt – und jedes Mal zeigt sie mir ein anderes Gesicht. Es ist ein bisschen wie ein Wiedersehen nach langer Zeit mit einer guten Freundin: angenehm vertraut und doch anders. Die Vielfalt der rund neun Millionen Einwohner zählenden Stadt kann schlichtweg überwältigend sein. Für jeden Besuch gilt deshalb: nicht zu viel vornehmen. Wer mit dem Anspruch auf Vollständigkeit hierherkommt, übernimmt sich ganz bestimmt. London muss man in Happen geniessen. Sonst beisst man sich daran die Zähne aus. Besonders bekömmlich ist ein Mix aus bewährten Klassikern und frischen Geheimtipps. Stets mit einer kleinen Prise Extra.
Oder mit einer grosse Portion Va-va-voom! Aufregend – treffender lässt sich ein Besuch bei «Sketch» nicht beschreiben. Mitten in Central London stolpert man hier beim Übertreten der Türschwelle des skurrilen Cafés in eine Parallelwelt. Ganz so wie Alice durch den Kaninchenbau ins Wunderland plumpste. Gedämpftes Licht, eine mit roter Farbe vollgekleckerte Treppe, schrille Muster und eine Garderobendame, die Abgegebenes in einem weissen Loch verschwinden lässt. Weshalb wir hier sind? Afternoon-Tea! Irgendwie ein Muss bei einem London-Aufenthalt. Meistens aber auch eine steife Angelegenheit, wenn man dafür eines der schicken Fünfsternehotels in Mayfair besucht. Nicht so hier. Confiserie und Mini-Sandwiches sind bei «Sketch» genauso verspielt wie das Interieur. Instagram hat das Seinige dazu beigetragen, dass der High Tea im sehr fotogenen, weil sehr plüschig-pinken Gallery-Raum gut gebucht ist. Doch es gibt einen Trick: Am späten Nachmittag (ab 15 Uhr) wird der High Tea auch im «The Parlour» serviert. Ein Raum, der ebenfalls zum Restaurant-Komplex gehört. Dort findet man fast immer ein Plätzchen. Die abgespeckte Tea-Version kommt zwar nicht auf der Etagere daher, kostet dafür aber auch nur einen Bruchteil des Originals, das mit schlappen hundert Franken zu Buche schlägt.
London muss man in Happen geniessen, sonst beisst man sich daran die Zähne aus
Oft liegt der Geheimtipp in London nur eine Abzweigung entfernt. So biegen wir an der Regent Street scharf links ab zu Liberty, anstatt für das Londoner Kaufhaus-Feeling zu Harrods zu pilgern. Und statt uns mit den Touristenströmen durch die Oxford Street zu schieben, flanieren wir lieber durch die Marylebone High Street und ihre Nebenstrassen, wo neben den altbekannten Geschäften – ein Highlight ist Daunt Books – temporäre Designerläden kontinuierlich für Abwechslung sorgen.
Der Wandel ist Londons einzige Konstante, das zeigt sich besonders deutlich bei einem Besuch auf dem Broadway Market in Hackney. «Vor 15 Jahren hätte man sich nicht getraut, hier alleine durch den Park zu spazieren. Inzwischen gehen dort alle hin – mit Kinderwagen und Hund im Schlepptau», sagt Abi Titterington-Lough. Die Texterin hilft Freunden aus, die vor Kurzem ein Geschäft für Naturkosmetik eröffnet haben. «Mit den mittelständischen Mietern sind auch neue Bedürfnisse in die Nachbarschaft eingezogen», erklärt die 26-Jährige, die seit acht Jahren hier lebt. Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Die jungen Familien, die in dieser Ecke Hackneys leben, sind keinesfalls bünzlig, sondern fast schon schmerzhaft hip. Sie decken sich am Broadway Market mit Kunstbüchern und Vintage-Overalls ein oder holen beim lokalen Metzger Schweinskoteletts, die zum Takt der aus den Lautsprechern schallenden Disco-Musik zerteilt werden. Touristenramsch, wie er in Camden oder an der Portobello Road verkauft wird, sucht man hier vergebens. Für die authentische Atmosphäre und die zahlreichen Essensstände (am längsten ist die Schlange vor den schottischen Toasties) reisen viele Londoner extra an. Sogar Austern, für die man sonst auch mal die Menschenmassen am Borough Market in Kauf nimmt, werden feilgeboten.
Dies notabene an einem Ort, wo früher Bandenkriminalität und Drogen das Strassenbild bestimmten. Hackney, der Stadtteil im Osten Londons, hat in den letzten zehn bis zwanzig Jahren eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Ausgehend von Shoreditch, das auch gerne als Hipster-Hochburg Europas bezeichnet wird, nahm die Aufwertung des heruntergekommenen Arbeiterviertels ihren Lauf. Künstler zogen in ehemalige Lagerhäuser ein, Industriebrachen wurden zu Cafés, Bars, Plattenläden und Nachtklubs umgewandelt. Bekannte Street-Art-Künstler wie Banksy, Stik oder Invader machten die Backsteinfassaden zu ihren Leinwänden. Inzwischen haben es sich Designhotels und Techfirmen in den Strassenzügen zwischen Liverpool Street und Old Street gemütlich gemacht. Und auch wenn man an der Brick Lane immer noch die feinsten Salt Beef Bagels (bei Beigel Bake) bekommt, der einst muffige Old Spitalfields Market trotz Modeketten weiterhin einen Besuch wert ist und der Columbia Road Flower Market nach wie vor zu den schönsten Sonntagsausflügen für Katergeplagte zählt: Die weniger ausgetretenen Pfade findet man weiter östlich und nördlich, wo die U-Bahn nicht hinfährt.
Entlang dem Regent’s Canal spazieren wir deshalb vom Broadway Market gemütlich stadteinwärts, vorbei an Hausbooten mit so klangvollen Namen wie «Snow Goose», «Poco the Little Boat» oder – sehr bezeichnend – «The Last Resort». Der Kanal als letzter Rückzugsort. Aufgrund der steigenden Mietpreise entscheiden sich immer mehr Londoner für ein Leben auf dem Wasser. So können sie in Nachbarschaften wohnen, die sonst unerschwinglich wären. Auch Dalston gehört zu diesen gefragten Gegenden. Dass die Gentrifizierung hier noch in vollem Gange ist, wird an der Kingsland Road schnell sichtbar: Stylische Secondhand-Shops wechseln sich mit türkischen Restaurants, nigelnagelneuen Pubs und Kneipen für Freunde von Gesellschaftsspielen (typisch London) ab. Wer nach entsprechenden Neonreklamen Ausschau hält, findet auch den Weg in die schummrigen Underground-Bars, die sich in manchem Keller entlang der Strasse verstecken. Sie heissen «Ruby’s», «La Cabina» oder «Original Sin». Oft sind sie nur Ausgangspunkt für eine lange Nacht, die nicht selten im «Dalston Superstore», einer berühmt-berüchtigten Bar, endet.
Im Tageslicht wird deutlich, dass Dalston allmählich von verrucht in Richtung wohnlich steuert. Bei The Dusty Knuckle Bakery gibt es nicht nur krosse Sandwiches (im Heimatland des Toasts keine Selbstverständlichkeit), sondern auch Brotback-Kurse. Ganz in der Nähe, an der Shacklewell Lane, wurde diesen Frühling mit The Factory ein alternatives Einkaufszentrum eröffnet. Inspiriert von den neuen Nachbarn, entschied sich die Innenarchitektin der Mall kurzerhand, gleich gegenüber selber einen Laden zu eröffnen. Und so verkauft Seda Korkmaz jetzt halt Artikel frei von Plastik für ein nachhaltiges Zuhause. «Weil man in London auch einfach mal etwas ausprobieren kann», sagt sie und fügt mit einem Schulterzucken an: «Und wenn man scheitert, versucht halt jemand anderes sein Glück.» Dieser Machergeist, der Herzschlag Londons, ist auch in den unabhängigen Geschäften an der etwas weiter nördlich gelegenen Stoke Newington Church Street spürbar.
Oder in Londons Süden, der ebenfalls aufblüht. Das seit einigen Jahren neu erwachte Brixton wartet darauf, entdeckt zu werden. Im benachbarten Peckham spriessen Shops, Bars, Klubs und Restaurants derzeit wie Pilze aus dem Boden. Die Battersea Power Station (ehemaliges Kohlekraftwerk) wird restauriert und beheimatet bald Bistros, Boutiquen und Büros. Aber diesen Happen spare ich mir für den nächsten Besuch auf. Denn ich habe London noch lange nicht satt.
5 for the road
Anreise Täglich direkt ab Zürich und Basel fliegen oder mit dem Zug via Paris reisen.
Hotel Mitten im coolen East End: das Nobu Hotel Shoreditch. www.tui.ch/nobu-hotel-shoreditch
Restaurant Weekend-Brunch im «Hoi Polloi» mit Streichquartett. www.hoi-polloi.co.uk
Drinks Perfekter Start fürs Bar-Hopping in Dalston: das «Red Hand». www.red-hand.co.uk
Viewpoint Umwerfende Aussichtsterrasse im Neubau der Tate Modern. www.tate.org.uk