Den Schnee und die Berge», sagt Augustiner-Chorherr Jean-Michel Lonfat und lächelt sanft, «man muss sie mögen, um das ganze Jahr hier oben zu leben.» Im Winter ist die Eingangstür des Hospizes oft nicht zu sehen – 14,5 Meter Neuschnee fielen vergangene Saison. Dazu die Lawinen: Immer wieder donnern sie an den umliegenden Hängen runter. Und erst der Wind – nie hört er auf zu tosen. Mit 268 Stundenkilometern fegte er mal über den Pass: Rekord! An zehn Tagen im Januar war es zu gefährlich, das Haus zu verlassen: So stark tobten die Naturgewalten.
Auf 2473 Metern über Meer liegt das Hospiz auf der Passhöhe des Grossen St. Bernhard. Dieser bildet die Verbindung zwischen dem Unterwallis und dem Aostatal in Italien. Seinen Namen hat der Pass von Bernhard von Menthon, Erzdiakon von Aosta. Im Jahr 1050 gründete er das Hospiz – um Reisenden, die in -dieser unwirtlichen Gegend der Kälte und Banditen ausgesetzt waren, einen Unterschlupf zu bieten.
Noch heute wird das Hospiz von Chorherren des Augustiner-Ordens geführt, ihr lateinischer Wahlspruch lautet: «Hic Christus adoratur et pascitur» – Hier wird Christus angebetet und genährt. Aus vier Personen besteht die religiöse Gemeinschaft, die ganzjährig im Hospiz lebt. Es sind die Chorherren Jean-Michel Lonfat (64, Priester), Raphaël Duchoud (53, Priester) und Frédéric Gaillard (53, Diakon) sowie Anne-Marie Maillard, 59. Sie gehört als Oblatin (jemand, der nach den Klosterregeln lebt) zur Kongregation. Lonfat ist der Prior, also der Chef des Hospizes. Dieser Winter wird sein achter sein hier oben.
Auch heuer war es am 15. Oktober so weit: Die Passstrasse über den Grossen St. Bernhard wurde unten in Bourg-Saint-Pierre VS sowie im italienischen Saint-Rhémy geschlossen. Bis Ende Mai – fast acht Monate – ist das Hospiz jeweils von der Umwelt abgeschnitten. Doch allein sind die Bewohner nicht: 6000 Übernachtungen zählten die Chorherren und ihre Helfer vergangene Wintersaison. Die Besucher (meist aus der Schweiz) gelangen nur mit Tourenski oder Schneeschuhen auf die Passhöhe. Der Aufstieg ist happig. Vom Parkplatz bei der Barriere unten beim Walliser Tunneleingang sind es 2,5 Stunden. Den Weg haben Chorherren mit Stangen markiert. Frédéric Gaillard: «Wir empfehlen, sich vorher über die Schnee- und Lawinensituation zu informieren.» Und: Eine Anmeldung ist unumgänglich. Die Chorherren wollen wissen, wie viele Leute im Verlauf eines Tages zu erwarten sind – aus Sicherheitsgründen. Bei schlechtem Wetter zeigen grosse Scheinwerfer auf der Passhöhe das Ziel an.
«Drinnen haben wir es schön und gesellig. Die Grundmauern sind zwei Meter dick»
Je eine Tonne tiefgefrorenes Brot, Kartoffeln, Fleisch und Fisch: Anfang Oktober wird das Lebensmittellager aufgefüllt, die Heizöltanks mit 70 000 Liter vollgepumpt. Während des Winters wird im Holzofen knuspriges Brot gebacken. «Viele Gäste bringen frisches Gemüse, Obst oder ein paar Baguettes mit», freut sich der Prior. Vor Ostern fliegt der Helikopter neue Frischwaren ein.
Die meisten Wintergäste kommen für ein paar Tage. Um Touren zu machen, Einkehr zu halten, sich im Lesesaal zu vertiefen. Oder um sich mit den Geistlichen zu unterhalten, mit ihnen in der Kirche Gottesdienst zu feiern oder in der Krypta zu beten. 120 Schlafplätze stehen zur Verfügung: zwei Schlafsäle mit Kajütenbetten (Nacht und Frühstück: 32 CHF), sechs Vierbettzimmer.
Auch nach fast 1000 Jahren sind die Chorherren auf dem Grossen St. Bernhard ihrer Berufung treu geblieben – der Gastfreundschaft. Diakon Frédéric begrüsst jeden Ankömmling im Gäste-Speisesaal persönlich. «Wer immer du bist, welche Religion du hast: Wir heissen dich herzlich willkommen, mit deinen Freuden, Problemen und Hoffnungen.»
Um die grosse Gästezahl zu beherbergen, sind die Chorherren auf Hilfe angewiesen: Eine Verwalterin, eine Wäscherin, ein Koch, vier Hilfskräfte packen mit an. Im Winter 2015 stand auch Timon Stricker als Zivildienstler im Einsatz. Schnee schaufeln, Tische decken, eingefrorene Wasserleitungen reparieren. Das Religiöse passe gut an diesen Ort, sagt der 23-Jährige aus Olten SO. «Das Hospiz ist eine wohltuende Oase. Andererseits empfand ich die Abgeschiedenheit auch als beängstigend – trotz Kontakt zur Aussenwelt durch WLAN.»
Prior Lonfat empfindet die Begegnungen mit den Gästen als bereichernd. Er selber gleitet zweimal monatlich runter ins Tal: Besuch bei der Familie, beim Arzt. Schnallt er dann wieder seine Ski an, gilt es vorsichtig zu sein: Die letzten paar Hundert Meter unterhalb des Hospizes führen durch die Combe des Morts – im Winter 2015 starben in dieser Schlucht vier Tourengänger in einer Lawine. Geschmeidigkeit sei dem Grossen St. Bernhard fremd, sagt der Prior. Überall Fels, Schnee, Eis. «Welch ein Kontrast zur Zusammengehörigkeit, die wir hier leben.»
Anne-Marie Maillard freut sich auf den Winter, «auch wenn er hart sein kann. Der Lebensrhythmus in unserem Haus tut gut.» Die Oblatin ist täglich draussen: Sie misst Schnee, Wind, Temperatur, fotografiert Lawinen und sendet die Daten ans Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos GR und an die zuständige Stelle im Kanton Wallis. An windgepeitschten Tagen entscheidet sie, wer aus dem Haus darf und wer nicht.
Das Hospiz liege im Herzen der Berge, sagt Prior Lonfat bei einem Glas Fendant. Die Anstrengung, das Hospiz aus eigener Kraft zu erreichen, lohne sich. «Sie hilft, die innere Aufregung zur Ruhe zu bringen.» Er freut sich auf die gemeinsame Weihnachtsfeier mit den Gästen in der Krypta. Draussen wird meterhoch Schnee liegen. Und wenn die Nacht klar ist, funkeln Tausende von Sternen über den Gipfeln.