«Bonjour, c’est le nouveau?», begrüsst eine Dame Florent Massy, als wir beim Staudamm Moiry ankommen. Seit der Sendung «Gens d’Hiver» des Westschweizer Fernsehens erkennen ihn die Leute beim Vorbeigehen. Florent bestätigt und stellt seinen jungen Golden Retriever vor: «Er heisst Reck und ist auf den Tag genau sieben Monate alt.» Er werde rund zehnmal am Tag von Fremden angesprochen.
Diesmal muss Florent aber nicht erklären, dass Reck Shadows Nachfolger ist. «Mittlerweile wissen die Leute, dass Shadow nicht mehr unter uns weilt.» Und er ergänzt: «Am Anfang war das ganz schön hart, immer zu wiederholen, was ihm widerfahren ist.» Shadow war Florents Begleiter, sein «Arbeitsbinom» und treuer Freund während elf Jahren. Er folgte ihm wie sein Schatten bei fast allem, was er tat. Zusammen hatten sie an die zehn Einsätze, um Lawinenverschüttete zu suchen.
Zusammen waren sie auch in der Sendung «Gens d’Hiver» zu sehen. Das Fernsehteam begleitete die beiden bei der einwöchigen Ausbildung mit Diplomprüfung für Lawinenhunde und ihre Führer im Januar 2019. Ausgestrahlt wurde die Sendung jedoch erst ein Jahr später. Unterdessen war etwas Furchtbares geschehen. Shadow hatte einen Fremdkörper verschluckt, der seinen Magen verletzte und eine schlimme Infektion verursachte. Trotz zwei Operationen ging es ihm nicht besser. Er litt. Sein Herz wurde schwächer. Florent und seine Familie entschieden, Shadow von seinem Leiden zu erlösen, und liessen ihn gehen. «Es war schrecklich, als hätte ich einen Sohn verloren», erinnert er sich, «während Wochen trauerte ich.» Auch beim Erzählen schiessen ihm die Tränen in die Augen. «Er war ein aussergewöhnlicher Hund. Extrem herzlich und kontaktfreudig.»
Shadow war so etwas wie ein Maskottchen der «Gens d’Hiver» geworden. Als «Flo», wie seine Freunde ihn nennen, an der Reihe war, die anderen sechs Kandidatinnen und Kandidaten in seiner Heimat im Val d’Anniviers zu empfangen, stellte Shadow sein Können unter Beweis. Er war ein erfahrener Lawinenhund und spürte die gestellten Lawinenopfer im Nu auf. Florent träumte schon immer davon, Lawinenhundeführer zu werden, und stellte sich der Herausforderung zusammen mit Shadow, als dieser noch ein junger Hund war. In all den Jahren haben die beiden eine extrem starke Bindung und Vertrauensbeziehung aufgebaut.
«Wir zählten aufeinander», sagt Florent. «Er wusste genau, wann es ernst war. Ein stechender Blick, und er konnte es kaum erwarten, dass ich ihm sein Arbeitsgilet umlegte und er losrennen durfte.» Der Einsatz im Ernstfall bleibe für den Hund eine Art Spiel, und natürlich freue er sich auch auf die Belohnung danach. Als Lawinenhundeführer sei es die grösste Ehre, jemals einem Lawinenopfer das Leben zu retten. Im Zweiergespann mit Shadow kam es nie dazu. Vielleicht wird Nachfolger Reck eines Tages zum Rettungshelden.
Reck muss allerdings zuerst ausgebildet werden. Dafür muss er die Aufnahmeprüfung zur Ausbildung als Lawinenhund absolvieren. Diese wird während einer ganzen Woche stattfinden. Es wird sich erst noch zeigen, ob er bereit ist, in die Fussstapfen von Shadow zu treten. Florent ist zuversichtlich, Reck habe einen klaren Kopf. Er stammt aus der gleichen Zucht wie Shadow und ist sein Verwandter. Mit sieben Monaten sei er allerdings mitten in der Pubertät und teste seine Grenzen.
Das zeigt sich auch auf dem gemeinsamen Spaziergang zum Stausee Moiry. «Viens ici, copain», ruft ihm Florent liebevoll zu, wenn er ihn nicht mehr in Sichtweite hat. «Bei den Golden Retrievern muss man stets aufpassen, was sie fressen, denn sie haben leider die Tendenz, einfach alles runterzuwürgen», erklärt er. Und das kann zum Verhängnis werden. «Am vergangen Samstag war ich schrecklich besorgt. Reck hatte an einem Holzbalken genagt und dabei einen Spleiss verschluckt, der in seinem Hals stecken geblieben ist, nur ein paar Millimeter neben der Halsschlagader. Eine Geschwulst hatte sich darum gebildet. Die ganze Szene erinnerte mich zu sehr an die Sache mit Shadow. Und das Verfluchte daran war, dass Shadow genau an diesem Wochenende vor einem Jahr eingeschläfert worden war. Ich war so erleichtert, dass Reck weiterhin Appetit hatte und herumtollte. Es ging ihm trotzdem gut.» Zum Glück! Aber dennoch musste Reck ein paar Tage darauf operiert werden, um den Holzspleiss zu entfernen. In der Zwischenzeit gehe es ihm wieder prima.
Sofern sich Reck mit den anderen Hunden in der Lawinenhundeschule gut verträgt, steht seiner Ausbildung nichts im Weg. Das ist Voraussetzung für einen Lawinenhund, er muss umgänglich sein. Zudem soll er eine gute Grundausbildung haben und bei Sitz, Platz oder Fuss gehorchen. Das haben ihm Florent, seine Frau Julie und ihr 12-jähriger Sohn David in den vergangenen Monaten beigebracht. «Damit er sich besser an die Kälte gewöhnt, schläft Reck draussen in seiner Hundehütte und nicht bei uns im Haus», sagt Florent. Das komme dem Hund bei seinen Lawineneinsätzen zugute. Bereits in der einwöchigen Ausbildung ist das hilfreich. Dann ist er nämlich mehrere Stunden im Schnee unterwegs. Er wird lernen, so schnell wie möglich verschüttete Personen oder ihnen gehörende Dinge wie einen Rucksack aufzuspüren und effizient zu buddeln. Auch das Helikopterfliegen will gelernt sein. Der Hund muss dabei unbedingt ruhig bleiben, um nicht mit seinen Pfoten oder dem wedelnden Schwanz Hebel und Knöpfe zu betätigen. Es könne schon drei bis vier Jahre dauern, bis ein ausgebildeter Lawinenhund auf Topniveau sei, so Florent. «Shadow war top. Er hatte sich den Ruhestand verdient.» An gewöhnlichen Wintertagen wird Reck Florent zwar zur Arbeit begleiten, aber im Hundezwinger an der Bergstation bleiben, damit er ausreichend Energie hat, wenn ein Ernstfall eintreten sollte. Unterdessen ist der Patrouilleur unterwegs im Skigebiet von Grimentz-Zinal – für die Instandhaltung und Sicherung der Pisten oder um gestürzten Skifahrern zu Hilfe zu eilen. Sobald es Zeit für die Mittagspause ist, kehrt Florent zu seinem «Copain» zurück und lässt ihn im Schnee herumtoben. «Ist er nicht an meiner Seite, habe ich schon Längizyt nach ihm», sagt Flo lächelnd.