Die Schweiz staunte: Im Wallis war mit Christophe Clivaz ein Grüner in den Nationalrat gewählt worden. Für den Kanton selber war es weniger überraschend, der 51-Jährige hatte sich bereits als Mitglied der Exekutive der Hauptstadt Sion einen Namen gemacht. Clivaz ist Politologe und unterrichtet am Institut für Geographie und Nachhaltigkeit der Universität Lausanne, die dafür in Sion einen Aussenstandort hat. Sein Spezialgebiet: Tourismus im alpinen Raum. Zurzeit beschäftigt er sich mit seinen Studentinnen und Studenten mit der Corona-Pandemie und den Folgen für den Tourismus. Es geht vor allem darum, ob aus der Krise eine Chance werden kann für einen nachhaltigeren und umweltfreundlicheren Tourismus.
Steigen wir doch gleich hier ein: Wird die Krise unser eigenes Verhalten in Bezug auf Ferien und Kurztrips verändern?
Wir haben es bereits diesen Sommer gesehen: Wegen geschlossener Grenzen, Reisebeschränkungen und Quarantäneregelungen haben viele Schweizerinnen und Schweizer ihr eigenes Land wiederentdeckt. Auch Leute, die sich gewohnt waren, regelmässig in exotische Länder zu reisen, stellten plötzlich fest: Hey, die Schweiz hat ja wunderschöne Orte und Regionen. Ob das zu einer langfristigen Änderung führen wird, ist noch nicht sicher. Was ich sagen kann: Je länger die Beschränkungen dauern, desto stärker wird sich das Verhalten ändern. Heute ist es so, dass die Schweizer Bevölkerung rund eine Milliarde Franken mehr Feriengeld im Ausland ausgibt als ausländische Touristen in der Schweiz. Einheimischer Tourismus hat also noch grosses Potenzial.
Reisen und Fremdes entdecken hilft aber auch, den Horizont zu erweitern.
Im Prinzip schon, aber sicher nicht, wenn man zehn Stunden auf die Seychellen oder Mauritius fliegt und dann nur an einem Strand liegt. Mit dem CO2-Gesetz hat das Parlament jetzt eine Flugabgabe beschlossen. Diese wird mithelfen, dass die Ferien im eigenen Land wieder attraktiver werden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das, was wir punkto Reisen als «normal» ansehen, ein Phänomen ist, dass es erst seit etwa 30 Jahren gibt. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist man so viel gereist. Der Zusammenbruch des Ostblocks, offene Grenzen weltweit und die sinkenden Preise in der Flugindustrie haben seit den 80er-Jahren zu dieser historisch einmaligen Situation geführt.
Wie kann der Tourismus in den Bergen noch attraktiver werden?
Wir müssen unsere Angebote noch besser vernetzen und Erlebnisse bieten. Es hat im Wallis nicht wenige, die als Touristen hierherkamen und denen es derart gefallen hat, dass sie sich hier niedergelassen haben und nun anderen Gästen dasselbe Erlebnis bieten wollen. Das ist für mich das Beste, was einer Region passieren kann. Dieses Ziel erreicht man mit Herzlichkeit, mit Produkten der Region, mit dem Lebensgefühl, das man vermittelt. Wir müssen aber unbedingt auch die Angebote und Regionen besser verbinden. Wäre es nicht schön, man könnte in einem Bergdorf zu Gast sein, tagsüber Ski fahren oder wandern und abends im Tal unten ins Kino gehen oder ein Konzert besuchen? Es gab schon Diskussionen, mit Kabinenbahnen die Städte im Rhonetal mit den Dörfern in den Bergen zu verbinden. Das tönt auf den ersten Blick verrückt, wäre aber umweltfreundlich und eine Attraktion.
Welchen Reisetipp würden Sie geben?
Mit dem Zug die Städte im Rhonetal besuchen: Brig, Visp, Sierre, Sion, Martigny – das sind alles historische Städte mit viel Geschichte, die sehr viel zu bieten haben. Das Wallis hat ein grosses kulturelles Angebot und städtebaulich interessante Orte. Das Wallis sind nicht nur Berge und Gletscher, wir sind urban, wirtschaftlich kompetitiv und haben mit Filialen der Universitäten ausgezeichnete Bildungsinstitute. Und wir sind innovativ, unsere Start-up-Szene gehört zu den Besten der Schweiz.
Als Gemeinderat in Sion waren Sie für die Stadtplanung zuständig. Was lag Ihnen besonders am Herzen?
70 Prozent der Walliser Bevölkerung leben in der Rhoneebene im urbanen Raum. Es braucht kurze Wege, die zu Fuss oder mit dem Velo zurückgelegt werden können. Mit dem Klimawandel müssen wir zudem dafür sorgen, mehr Grünflächen, Bäume, vertikale Bepflanzungen zu planen, um die Städte zu kühlen. Wir haben dazu an einem schweizerischen Projekt teilgenommen.
Was fehlt Ihnen, wenn Sie nicht im Wallis sind?
Das Licht. Im Wallis herrscht ein einzigartiger Glanz, eine spezielle Helligkeit. Die will man nie mehr missen.