Es ist ein ruhiger Morgen in der koreanischen Küstenstadt Gangneung. Ein paar vermummte Jogger rennen vorbei. Sonst ist es menschenleer, die meisten Cafés in der Nähe haben noch geschlossen. Martin Rios, 36, und Jenny Perret, 26, frischgebackene Olympia-Silbermedaillengewinner im Mixed-Curling, haben erstmals Zeit, sich ausserhalb des olympischen Dorfes und der Wettkampfstätten umzusehen.
Der Himmel ist leicht bedeckt – so wie die Stimmung des Duos. Während die Schweiz über die erste Medaille nach vier Tagen ohne Grosserfolg jubelt, ist den Sportlern selbst nicht nach Feiern zumute. «Nachher, wenn ich alleine bin, springe ich noch ins Wasser», sagt Rios immerhin mit einem Schmunzeln.
Er impulsiv — sie organisiert
Ein bisschen Ablenkung kann nicht schaden. Eis-Partnerin Perret verdreht die Augen. Es scheint ihr recht zu sein, dass keine Zeit bleibt für solche Spässchen. Denn sie ist bereits gleichentags als Ersatzspielerin des Frauen-Teams im Einsatz.
Die beiden schlendern weiter der Strandpromenade entlang und bleiben vor einem koreanischen Restaurant samt Wassertank voller Meeresgetier stehen. «Ich liebe Seafood. Wenn es mal keine Shrimps mehr gibt, dann wegen mir», witzelt Rios. Perret verzieht das Gesicht – sie hasst Meeresfrüchte.
Der Glarner mit spanischen Wurzeln und die Bielerin waren einst auch privat ein Paar. Doch sie sind als Typen ziemlich verschieden. Er ist impulsiv, sie eher ruhig und kontrolliert. Sie ist pünktlich und organisiert – ein «Stresskopf», wenn es nach ihm geht.
Er kommt meistens auf die letzte Sekunde. «Diese Liste geht noch lange weiter», sagt Martin Rios trocken. Trotz – oder gerade wegen – diesen gegensätzlichen Charakterzügen und Vorlieben bildet das ehemalige Liebespaar ein explosives Curling-Doppel.
Aktion von Rios spaltet die Curling-Szene
Bei Jenny liegt das Curlen im Blut, bereits ihre Eltern waren begeisterte Spieler, sie selber beginnt mit acht Jahren. Martin fängt etwas später an, mit elf, als in seiner Heimat Glarus die Curlinghalle eröffnet wird. Heute trainieren sie um die 15 Stunden pro Woche. Das ist denn auch die Zeit, die sie zusammen verbringen. Ist die Eiszeit vorbei, gehen sie getrennte Wege – und widmen sich ihren anderen Jobs. Beide sind noch zu 60 Prozent berufstätig – er als Juniorentrainer, sie als Büroangestellte.
Die beiden sind bescheiden, würden nicht von sich sagen, dass sie besonders talentiert seien. Eher Arbeitertypen, «mit einem grossen Siegeswillen». Dieser bringt sie weit. Manchmal gar zu weit? Bei den Trials im vergangenen Frühling, wo es um die Olympiaqualifikation geht, soll Rios in einem Vorrundenspiel einen Stein berührt haben. Die Aktion spaltet die Curling-Szene, Rios beteuert seine Unschuld, der Verband setzt ein Wiederholungsspiel an. Sportlich gibts rein gar nichts zu diskutieren. Rios/Perret gewinnen erneut und setzen ihren Siegeszug auch an der WM fort.
Sie haben ein Erfolgsgeheimnis
Ihr Erfolgsgeheimnis: Unter Druck und Hochspannung stets die grössten Energien freisetzen zu können. Heisst: Der Umgangston auf dem Spielfeld ist oft bewusst schroff, Meinungsverschiedenheiten werden lautstark ausgetragen, und es können schon mal Beleidigungen fallen.
Dass im Schaufenster Olympia nun die halbe Schweiz über ihre Dialoge diskutiert, amüsiert die beiden. «Die Leute haben jetzt das Gefühl, wir seien ständig am Chifle – so ist es nicht», sagt Perret. «Wir habens auch schon mit mehr Harmonie versucht, aber da sind wir kläglich gescheitert. Zum Glück sind wir beide nicht nachtragend. Was wir in den Emotionen sagen, ist nach dem Spiel kein Thema mehr», sagt Rios.
Verpasstes Gold ist ein schwerer Schlag
Das verpasste Olympia-Gold kann das Duo nicht ganz so schnell verdauen. Als die Niederlage im Finalspiel gegen Kanada Tatsache ist, teilen Rios und Perret eine Umarmung des Trosts und nicht der Freude. Die Flower-Ceremony lassen sie mit leerem Blick über sich ergehen. «Wir wollten Gold, das hat nicht geklappt. Im Moment ist dieses Gefühl noch präsent», sagt Perret.
Die Fans zu Hause sehen das anders. Nach dem Spiel bekommen die beiden zig Gratulationen per SMS und via Social Media. Sogar Tennisstar Roger Federer gratuliert via Twitter. «So cool! Ich habe nach dem Spiel noch gesagt, das wäre das Einzige, was mich jetzt ein wenig aufmuntern würde», sagt Perret. «Und ich weiss nun endlich, was ich für einen ersten Tweet machen werde», sagt Rios, der schon lange einen Twitter-Account ohne Inhalt hat.
Jetzt lächeln beide doch noch. Und am selben Abend beim Empfang im House of Switzerland mit der Silbermedaille um den Hals wird daraus dann sogar noch ein herzliches Lachen. Geht doch!