Er selber sagt, was ihm passiert sei, habe einen Sinn. Vielleicht ist Christian Wenk ja darum gelähmt, damit wir Fussgänger überhaupt eine Chance haben, ihm einigermassen folgen zu können. Denn sein Tempo ist gnadenlos. Was er will, was er tut, denkt und bewegt – alles getrieben und beseelt von Hingabe, Herz und einer fast unheimlichen Motivation vorwärtszukommen.
Der 35-Jährige kann einfach nicht still sitzen. Muss er aber. «Der Rollstuhl steht nun mal für meine Behinderung, er ist mein Merkmal», sagt er. Jeder habe doch so seine Schwächen. «Wobei einer mit Bibeli im Gesicht möglicherweise weniger gut damit leben kann als ich mit meiner Querschnittlähmung.» So spricht nur einer, der «den abruptesten Richtungswechsel in meinem Leben» verarbeitet hat. Und darin gar eine Chance sieht. «Wenk, der Fussgänger, hat doch keinen interessiert», spitzt er zu. «Erst der Rollstuhl macht mich spannend.»
Christian Wenk ist seit neun Jahren von der Brust an abwärts gelähmt. Christian Wenk ist aber auch Oberarzt, Coach der Schweizer Handbike-Nati und Pianist. Verlobt sei er auch noch, fügt er an und fasst zusammen: «Ich muss der glücklichste Mensch sein.»
Der Arzt im Rollstuhl ist für seine querschnittgelähmten Patienten enorm glaubwürdig. Das bestätigen Wenks Patienten im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil LU. Wie etwa Andreas Kurath, der eben von Wenk an der Schulter untersucht wird und betont, Aussagen von Dr. Wenk nehme er sich viel mehr zu Herzen, «weil der doch mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat wie ich».
Und Patient Franz Arnold, der nebenan im Bett liegt und mit dem «Urner Wochenblatt» raschelt, bringt es träf auf den Punkt: Wenn irgendein Arzt ihm etwas sage, dann sei das, wie wenn ein Pfarrer predige: Man müsse das halt einfach irgendwie glauben. «Der Wenk aber, im Rollstuhl, ja, der kennt doch aus eigener Erfahrung all die Chnörze, mit denen wir Querschnittgelähmten hadern.»
Wenk zischt davon, durch die Spital-Gänge, kurvt ins nächste Zimmer. In den zwei kleinen Vorderräder seines Rollstuhls glimmen beim Fahren rote Lämpchen. «Nur ein Gag», winkt er ab. Obwohl – bei seinem Tempo machen Warnlampen durchaus Sinn. Doch dann muss auch Wenk verschnaufen. Während der Kaffeepause legt er den Kopf auf den Tisch, bleibt eine Minute regungslos, als halte er ein Schläfchen. Dann stemmt er sich wieder auf und erklärt, die hohe Lähmung beeinflusse auch seinen Blutdruck. Manchmal, wenn er zu aufrecht sitze, werde ihm sturm, «dann muss ich den Kopf senken». Es wird der einzige Moment bleiben, in dem Wenk eine Schwäche zeigt.
Alle anderen Schwierigkeiten meistert er mit Tricks und Geschick. «Nicht nur meine Beine sind gelähmt, sondern auch Bauch- und Rückenmuskeln, darum habe ich keine Oberkörperstabilität.» Will er etwas vom Boden hoch-heben, muss er sich mit der einen Hand festhalten, «sonst kippe ich». Und beim Untersuchen seiner Patienten, wenn er an ihnen Manipulationen vornimmt, blockiert er seinen Rollstuhl mit der Bremse, «damit es mich nicht nicht wegstösst». Das ist aber auch wirklich der einzige Moment, in dem er freiwillig seinen Rollstuhl blockiert. Denn einer wie Wenk bremst gar nicht gern.
Der 20. September 2000 veränderte sein Leben. Zu der Zeit war Medizinstudent Wenk einer der weltbesten Duathleten (Velo und Laufen), reif für WM-Gold. Bei einem Velotraining in Japan prallte er in ein falsch parkiertes Auto, blieb mit gebrochenen Brustwirbeln liegen. Wenk, der Spitzensportler, war plötzlich Christian, der Querschnittgelähmte, ein 26-Jähriger im Rollstuhl, «der statt Hochleistungstraining das Anziehen eines T-Shirts übte und sich hilflos in die Hose machte».
«Kein Fussgänger kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie es ist, gelähmt zu sein»
Spricht Wenk über jene Zeit, tut er das mit einer ehrlichen und darum ergreifenden Nüchternheit. Ja, er habe damals schwere Zeiten durchlebt. Nein, kein Fussgänger könne sich auch nur annähernd vorstellen, was ein Querschnittgelähmter erlebe. «Es gibt Probleme, die bleiben, und solche, die immer wiederkehren, irgendwann gehört es einfach dazu. Ich lernte Gott sei Dank sehr rasch, damit umzugehen.» In nur zehn Wochen bringt Wenk die Reha hinter sich («Normalerweise braucht man sechs bis zehn Monate») und beendet sein Medizinstudium.
Seine Dissertation hatte er noch vor dem Unfall geschrieben. Darin ging es, als hätte er eine Vorahnung gehabt, um die Rückenmarks-regeneration von Querschnittgelähmten. Zufall? «Es gibt keine Zufälle», sagt Wenk. Beruflich stürmt er seither vorwärts, und auch sportlich verschiebt er immer wieder seine Grenzen. Zum Beispiel auf der Strasse im Handbike. Seit 2007 ist er Coach der Handbike-Nati. Und geht auch mal selber an den Start. So wie heute, am Weltcuprennen in Oensingen.
70 Kilometer in 2 Stunden 24 Minuten. «Ich muss doch selber erfahren, was meine Schützlinge während des Rennens erleben», keucht Wenk im Ziel, das Schweizerkreuz auf dem Renndress. Ein deutscher Handbiker schockt derweil den gehenden Teil der Zuschauer mit seinem T-Shirt-Slogan: «Laufen ist doof».
Wenk – der Arzt, der Sportler – ist auch noch Musiker. Und wie alles, was er tut, zielt er hoch. Seit ein paar Jahren tritt er als Konzertpianist auf. Er sagt: «Musik ist der Schlüssel zu meinen Emotionen.» Freunde an der ETH haben für ihn eine Maschine entwickelt, die das Klavier-Pedal tritt. Mit einem Silikonröhrchen im Mund gibt der Pianist die Impulse an die Pedal-Vorrichtung weiter. Für Januar 2010 sind Wenks nächste Auftritte geplant: in der Tonhalle Zürich und im KKL Luzern.
Seit zwei Jahren ist Wenk mit der Zürcher Hebamme Jacqueline Hartmeier, 23, zusammen – und jetzt verlobt. Das Paar lebt in Dagmersellen LU. 17 Kilometer sinds bis zum Arbeitsplatz in Nottwil. Die Strecke fährt Christian oft mit dem Handbike. Und es kann vorkommen, dass dieses Training zum Rennen verkommt: «Heute Morgen», knurrt Wenk, «hat mich auf dem Weg ein Töffli überholt.» Das konnte er sich doch nicht bieten lassen! Also jagte er hinterher.
Leider fuhr das Töffli die gesamte Strecke bis nach Nottwil. «Einige lange, schnelle, heisse Kilometer!» Es sei hart gewesen – jetzt grinst Wenk –, «aber schliesslich war ich doch zuerst am Ziel».