Michaela kommt vom Pfandflaschensammeln nach Hause, geht ins Wohnzimmer und trifft dort auf ihren Freund Sebastian - auf dem Tisch liegend, umringt von Teelichtern, in ausgeleierten, grauen Unterhosen und Tennissocken. Auf seinem Oberkörper verteilt: eine riesige Portion Spaghetti Bolognese - das Lieblingsessen von Michaela. Die korpulente Frau soll die langen Nudeln nun erotisch von seinem Körper essen. Ohne Besteck. Gezeigt wurde die peinliche Szene in der Doku-Sendung «Mitten im Leben». Wochenlang sorgte das Video im Internet für Lacher, und der deutsche Moderator Stefan Raab machte sich einen Spass daraus, die Szene in seiner Sendung zur Schau zu stellen.
Für die Sendungsmacher ein Glückstreffer. Denn das Verlangen des TV-Zuschauers nach solch absurden, gleichzeitig dramatischen Geschichten und Schicksalen ist riesig. Viele werden sich dabei schon gefragt haben: Was ist in die Leute gefahren, sich derart zu entblössen? Die traurige Wahrheit: Sie melden sich selbst auf die Aufrufe der Sender, versprechen sich davon eine Auffrischung ihres Liebeslebens, eine Generalüberholung ihres Aussehens oder einfach Geld. Aber nur, wer besonders skurril oder vom Schicksal gebeutelt ist, schafft es überhaupt ins Fernsehen. Dafür sorgen knallharte Casting-Agenten.
Kathrin Sand war eine von ihnen. Sie hat mit Süddeutsche.de gesprochen, ihren richtigen Namen wollte sie aus Angst vor ihrem ehemaligen Arbeitgeber nicht verraten. Nach fünf Monaten hat sie gekündigt, weil ihr die Methoden der Produktionsfirma zu weit gingen. «Kollegen haben oft geweint, ich auch», erinnert sie sich. «Auf Intimsphäre wurde zu keiner Zeit Rücksicht genommen.» Zum Schluss habe sich der Bewerber freiwillig zur Verfügung gestellt. Sie verrät erschütternde Fakten aus ihrem ehemaligen Berufsalltag:
- Der Bewerber muss Fragen zu Gewicht, Konfektionsgrösse, Krankheiten oder Todesfällen beantworten müssen. Nur, wenn er sich weit weg von der gesellschaftlichen Norm bewegt, ist er eine Runde weiter.
- Kathrin Sands «krasseste Story»: Eine Mutter, die sich aus Verzweiflung bewarb. Ein Familienmitglied hatte sich erhängt, andere waren davor, auf die schiefe Bahn zu geraten. In die Show schaffte sie es dennoch nicht. Sie sei «nicht asozial genug», habe es geheissen.
- Wenn die Bewerbungen ausblieben, musste Kathrin Sand zum Telefonhörer greifen und in verschiedenen Dörfern anrufen und vom Bürgermeister oder Coiffeur Tipps für fernsehtaugliche Schicksale einholen. «Wir mussten aus Leuten, die ganz arm dran waren, alles rauskitzeln», erzählt sie.
Aktive Kandidatensuchen parallel zum Castingaufruf gibt es auch in der Schweiz, wie «3+» auf Anfrage von SI online bestätigt. «Bei ‹Jung, wild & sexy› zum Beispiel haben wir von Anfang an auch Videocastings in Clubs gemacht», sagt Dominik Kaiser, Chef des Privatsenders. Natürlich spielten «spannende Lebensgeschichten» bei der Auswahl eine Rolle, sie kämen aber nicht an erster Stelle. «Das allerwichtigste ist, dass wir Personen finden, welche über den flachen TV-Bildschirm Charisma entwickeln und telegen sind, welchen man gerne zuguckt und zuhört.» Zudem stellt er klar: «Auf extrem tragische Fälle verzichten wir.»
Dieses Credo verfolgt auch das Schweizer Fernsehen. «Das persönliche Schicksal eines Kandidaten spielt in unserem Auswahlverfahren keine Rolle», sagt Mediensprecher Marco Meroni. Die ausschlaggebenden Kritierien würden je nach Sendung variieren. «Bei unserer Auswanderer-Doku-Soap ‹Auf und davon› haben wir Leute gesucht, die spannende Auslandziele haben. Menschen mit einem tragischen Lebenshintergrund hätten wir bewusst nicht gewählt.» SRF will sich denn auch von den erwähnten voyeuristischen Doku-Soaps distanzieren. «Solche Formate sind nichts für uns - unser Publikum würde sie auch nicht goutieren.»