An einer Wand im Büro der Chefin des Schweizer Fernsehens in Zürich Leutschenbach hängen Zeichnungen ihrer Göttikinder Jonas und Paula («Sie haben mich porträtiert»). Auf der andern Seite sind zwei Plakate ihres ehemaligen Lebenspartners, des renommierten Grafikers und Plakatgestalters Ralph Schraivogel. Auch am vergangenen Samstag sitzt Ingrid Deltenre im Büro.
Sie ist aufgewühlt. Der «Blick» schreibt, sie sei «rausgeekelt» worden, der «Tages-Anzeiger» stellt fest: «Deltenre blieb unfassbar.» Sie versteht die Vorwürfe nicht, zeigt uns ihre E-Mails. An einem einzigen Tag erhielt sie über 100 Dankes-Mails von zufriedenen Mitarbeitenden aus allen Bereichen. «In den fünfeinhalb Jahren an der Spitze des Fernsehens habe ich mir eine dicke Haut zugelegt», sag sie. Aber man spürt: Die ausführlichen und sehr persönlichen Worte tun ihr (trotzdem) gut.
Frau Deltenre, haben Sie genug von Ihrem Lebenspartner Sacha Wigdorovits, den der «Tages-Anzeiger» als «reizbarsten PR-Mann der Schweiz mit dem Temperament eines Spaghetti-Western-Helden» beschreibt?
Nein, nein. Überhaupt nicht.
Aber Ihre neue Arbeitgeberin, die EBU (European Broadcast Union), ist in Genf, mit Büros in Peking, Singapur, Moskau, New York, Washington und Brüssel.
Wir sehen uns heute schon wenig. Er ist selber sehr stark beschäftigt. Ich auch. Dazu kommen viele repräsentative Aufgaben.
Nochmals: Ziehen Sie von Zürich weg?
Ich nehme mir in Genf ein kleines, wirklich ein kleines Pied-à-Terre. Zwei, drei Tage pro Woche werde ich dort sein. Und ich werde viel von Zürich in die Welt hinaus fliegen.
Sie sind jetzt 48. Haben Sie das Thema Kinder ad acta gelegt?
Schon sehr früh wusste ich, dass ich gern arbeite. Ich habe immer überlegt, wie ich das unter einen Hut brächte. Ich habe einen Riesenrespekt vor den Frauen, die sich so organisieren können. Aber für mich war schnell klar: Das schaff ich nicht! Mir fehlt die Energie, auch noch Kinder zu haben und ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie auch verdient haben.
Kinder sind auch eine Bereicherung.
Da gebe ich Ihnen recht. Meine Schwestern haben Kinder, ich bin auch Gotte. Sicher keine mustergültige. Aber mindestens einmal jährlich verreise ich mit Paula in eine Grossstadt. Das mach ich wirklich gern. Ein solches Wochenende ist ein Jungbrunnen!
Wie halten Sie sich sonst noch in Form?
Einmal wöchentlich spiele ich Tennis, zweimal jogge ich. Im letzten Jahr bin ich von Sommer bis Dezember jeden Tag einen Kilometer geschwommen. Doch viele Sitzungen finden bereits derart früh statt, dass ich das Schwimm-Training dieses Jahr leider wieder absetzen musste.
Als SF-Direktorin müssen Sie auch im Kopf fit sein.
Am besten kann ich in der Oper oder bei einem Konzert abschalten.
Was hören Sie am liebsten?
Opern von Verdi, Puccini, Mozart und Rossini. Etwas vom Schönsten, das ich je gehört habe, war ein Konzert des Cellisten Mischa Maisky mit dessen Tochter Lily in der Tonhalle in Zürich. Sie spielten Beethoven, aber auch spanische Klänge von de Falla. In solchen Momenten kann ich völlig abtauchen. Das ist wunderschön.
Welches Buch liegt auf Ihrem Schreibtisch?
«Glück und Schicksal» von Seneca.
Es geht beim römischen Philosophen Seneca darum, wie man mit dem umgehen soll, was einem das Schicksal beschert.
Genau.
Hat das auch mit Ihrem neuen Job zu tun?
Ich habe tatsächlich meine Karriere nie geplant und alles so genommen, wie es gekommen ist. Mit dieser Strategie bin ich gut gefahren und werde dies auch künftig so machen.
«Ich nehme mir in Genf ein kleines, wirklich ein kleines Pied-à-Terre»
So einfach entwischen Sie mir nicht. Kritiker monieren, dass Sie an die EBU-Spitze wegbefördert worden seien?…
… und ich in Genf eine ruhige Kugel schieben werde. Schön wärs (lacht). Ich kann nur sagen, dass es künftig nicht ruhiger wird. Ich wechsle vom Schweizer Fernsehen zu einer europäischen, multinationalen Organisation. Ich bin überzeugt, dass ich dort nochmals viel lernen kann. Auch reizt es mich, für gewisse Fragen, die sich stellen, europäische Antworten zu finden.
Was heisst das genau?
Es geht zum Beispiel darum, Verordnungen und Gesetze so zu steuern, dass Unternehmen des Service public in den einzelnen Ländern nicht abgeschnürt werden. Mehr noch: Ihre Position soll gar gestärkt werden. Das finde ich spannend und wichtig.
Sie hätten vor einem Jahr an die Spitze der Espace Media Groupe wechseln können.
Ich sagte ab. Mir gefällt das TV-Umfeld.
Der «Blick» forderte am Samstag: «Jetzt muss das SF-Programm wieder besser werden.»
Es ist klar, dass ich als oberste Verantwortliche den Kopf für alles hinhalten muss. Das ist Teil meiner Aufgabe. Das geht von der schräg sitzenden Krawatte über handwerkliche Fehler bis hin zu grossen Sendungen, die nicht funktionieren. Das ist okay so.
Wurden Sie als Frau härter kritisiert?
Am Anfang dachte ich das auch. Aber mit der Zeit sah ich, dass es auch bei Männern ähnliche Mechanismen gibt.
Wie war das bei Ihnen?
Ich war von Anfang an bis heute mit Vorurteilen einiger Printjournalisten konfrontiert. Immer wieder habe ich versucht, diese mit Fakten zu widerlegen. Leider oft erfolglos.
Was würden Sie anders machen, wenn Sie nochmals starten könnten?
Ich würde alles nochmals genau gleich machen und zuerst ein Leitbild erarbeiten, die Organisation anpassen und das Programm strategisch weiterentwickeln. Wir haben heute mehr Tiefgang in der Information mit neuen Formaten wie beispielsweise dem Wirtschaftsmagazin «Eco» und dem Wissensmagazin «Einstein». In der Kultur sind wir aktueller mit dem «Kulturplatz» und haben grosse Kulturevents.
Wie «La Traviata» im Hauptbahnhof?…
… oder «La Bohème» im Hochhaus, das diesen Herbst geplant ist. Man muss immer ein gewisses Risiko eingehen, um Erfolg zu haben. Und zum Risiko gehört ab und zu auch der Misserfolg. Wichtig ist, dass man aus den Fehlern lernt. Ich kann aber sagen, dass das Schweizer Fernsehen heute auf einem sehr guten Level ist. Das höre ich auch immer wieder aus internationalen Kreisen.
Was konnten Sie nicht umsetzen?
Gewisse Formate fehlen mir. Der Schweizer Film ist nicht in seiner besten Phase. Es müssten mehr eigene starke Produktionen möglich sein. Auch vermisse ich ein aussenpolitisches Magazin. Und gut vorstellen könnte ich mir ein spannendes Interview-Format.
Zum Schluss: Für viele ist Ihre Kleiderwahl ein grosses Ärgernis.
Ich finde, dass die Personen auf dem Bildschirm optimal rüberkommen müssen. Doch für mich selber hat die Kleiderfrage nicht diese Priorität.