Er ist ein Fussballstar, aber sein Trikot trägt Antoine Griezmann immer noch wie ein Fan. Er wählt bei Atletico Madrid wie im französischen Nationalteam stets ein langärmliges Jersey mit der Nummer 7 auf dem Rücken, um David Beckham zu huldigen. «Als Kind und Jugendlicher war er mein Idol.» Den Beckham-Kult setzt er bis heute mit 27 fort; wo ihn alle Welt längst für einen belangvolleren Fussballer als David Beckham hält.
«Dies ist das Jahr Griezmanns», schreibt Spaniens bedeutendste Tageszeitung «El País», nachdem er im Juli 2016 bei der Euro in Frankreich zum besten Spieler gewählt und mit sechs Treffern zum besten Torschützen des Turniers gekürt wird. Dabei offenbart Antoine Griezmann ungewollt etwas Wundervolles: Auch Verlierer können Sieger sein. Denn die grossen Finals der Saison hat er beide verloren, mit Atlético in der Champions League gegen den Stadtrivalen Real sowie bei der EM mit Frankreich gegen Portugal.
«Warten wir ab, ob du vielleicht noch wächst»
Es schmälert die Bewunderung des Publikums kaum. Jeder kann sehen, zu welchem Klassestürmer sich Griezmann in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Jeder versteht, wie besonders, wie wertvoll es ist, dass ein junger Mann nun zu den besten seines Fachs gehört, den als 14-Jähriger kein einziger Profiklub seines Landes in die Jugendakademie aufnehmen wollte. Weil er zu klein, zu schmächtig sei – weil er auf Deutsch gesagt zu schwach sei. So erinnert der Fall Griezmann daran, warum der Fussball ein solch beliebter Sport ist: Weil in diesem Spiel wirklich jeder, ob klein oder gross, ob muskulös oder feingliedrig, seinen Platz finden kann. Aber der Fussballsport braucht seine Zeit, zu erkennen, dass auch ein Mann von 1,75 Meter und 70 Kilogramm wie Griezmann ein gewichtiger Spieler sein kann.
Mit 13, 14 spielt er in den Nachwuchsakademien der französischen Profiklubs vor, «sechs, sieben», schätzt er selbst, laden ihn zur Probe ein, der Junge kann ja was, schnell am Ball, blitzschnell im Kopf. Olympique Lyon etwa, damals Ende der Neunziger die Nummer 1 in Frankreich, lässt ihn eine halbe Saison lang einmal die Woche mit dem Jugendteam mittrainieren. Religiös fährt ihn der Vater jeden Freitag die 60 Kilometer von seiner Heimatstadt Mâcon nach Lyon. Nach dem halben Jahr sagt ihm Olympique, sie nähmen ihn doch nicht. Der FC Metz lädt ihn ein und dann vor der Probe wieder aus. «Die Begründung war immer dieselbe», erzählt Griezmann in einem Fernsehinterview: «Warten wir ab, ob du vielleicht noch wächst.» (Der Grössenunterschied im französischen National-Team im Bild unten ersichtlich)
Immer wieder Absagen
Es ist die Zeit, als Frankreich mit einem athletischen Team 1998 Welt- und 2000 Europameister wird. In Clairefontaine, dem Leistungszentrum des französischen Verbandes, absolvieren Jugendspieler Kraftübungen mit Bleiwesten, und sogar dem elegantesten Fussballer des Landes, Zinedine Zidane, wachsen beachtliche Muskeln; unter anderem wohl mit Hilfe von Doping, wie Gerichtsverfahren gegen seinen damaligen Klub Juventus Turin nahelegen. Ein entscheidender Spieler müsse ein kräftiger Athlet sein, lautet das Glaubensbekenntnis.
In diesem Ambiente sucht der 14-jährige Antoine Griezmann im Sommer 2005 weiter. Der HSC Montpellier lässt ihn bei einem Kinderturnier in Paris mitmachen. Spieleragent Eric Olhats landet an jenem Tag mit einem Flug aus Buenos Aires in Paris. Er hatte in Argentinien für den spanischen Erstligisten Real Sociedad San Sebastián nach Profispielern gesucht. Von Argentinien aus hatte er mit ein paar Kollegen telefoniert, die wegen dem Jugendturnier von Paris St. Germain in der Stadt waren. Wenn er in Paris lande, solle er doch auf einen Plausch vorbeischauen.
Scouts sind theoretisch bittere Konkurrenten, denn sie wollen alle die grossen Talente für ihren Klub entdecken. Aber in der Realität sind die meisten befreundet. Es ist das starke Kollektivgefühl von Männern, die in der Glitzerbranche Fussball unglaublich viel arbeiten und kaum etwas abbekommen vom Scheinwerferlicht und dem grossen Geld. Olhats fährt vom Flughafen zum Pariser Jugendturnier. Er ist ja nicht zur Arbeit dort, aber natürlich kann er mit seinen geschulten Augen nicht wegschauen. Die wunderbare Balltechnik, die ästhetisch sauberen Bewegungen des kleinen Jungen mit den wasserstoffblond gefärbten Haaren im Sturm von Montpellier ziehen ihn an. Wie Olympique und Metz sagt auch Montpellier Griezmann nach dem Turnier ab. Aber Olhats gibt ihm seine Visitenkarte. Sein Vater solle ihn doch einmal anrufen.
Griezmann stammt aus einer Fussballer-Familie
Alain Griezmann weilt mit seiner Frau Isabel im Urlaub in Tunesien, als Antoine anruft, er könne zu einem spanischen Verein ins Probetraining! Vater Griezmann hält es für einen bösen Scherz. Er ist nach all den falschen Hoffnungen der französischen Klubs misstrauisch geworden gegenüber der Fussballwelt, um nicht zu sagen: verbittert. Fussball war in der Familie immer wichtig gewesen, Antoines Grossvater mütterlicherseits, Amaro Lopes, hatte in Portugal in der ersten Liga gespielt, für Paco de Ferreira. 1957 war er mit seiner Frau vor dem Regime des Diktators Salazar nach Mâcon geflohen, Frankreich und die französische Schweiz waren das Ziel für Hunderttausende Portugiesen.
In Mâcon gründeten die Portugiesen ihren eigenen Fussballklub, Sporting, da spielten alle, der Opa, der Vater, Antoine und dessen Bruder Theo. Aber von diesen Profiklubs, die seinem Kind Hoffnung machen, nur um es zu enttäuschen, will der Vater nichts mehr wissen. Eric Olhats fährt nach Mâcon und bleibt nach eigener Erinnerung vier Tage, bis er die Eltern Griezmann überredet hat, Antoine mit ihm nach Spanien gehen zu lassen.
Die grosse spanische Epoche mit dem Weltmeistertitel und so vielen Europapokal-Siegen beginnt damals, 2005, erst. Aber das Denken, dass Grösse nicht zählt, hat sich schon durchgesetzt. Der FC Barcelona erobert die Welt mit den Zwergen Messi, Xavi, Iniesta, Deco, alle unter 1,75 Meter, und die Fussballwelt lernt von ihnen: Präzision und Geschwindigkeit sind wichtiger als Athletik. «So konnte ich ihn trotz schmächtigem Körper zu Real Sociedad bringen», sagt Olhats.
Täglich auf die Waage stehen
Antoine zieht bei ihm in Bayonne ein, so kann der Junge in Frankreich leben und zur Schule gehen. Zum Training fährt er mit dem Bus oder mit Olhats über die Grenze. Es wird Olhats persönliches Projekt: ein französischer Junge, ein Landsmann, bei San Sebastián. Für den Jungen wird er zum zweiten Vater. Schnell durchläuft Griezmann in San Sebastián die Nachwuchsteams, mit 18 darf er erstmals für die Profis spielen. In der Folge schiesst er jede Saison um die zehn Tore für Real Sociedad und fällt gelegentlich durch jugendliche Flausen auf. Einmal wird er erwischt, wie er mit ein paar Kollegen vor einem Juniorenländerspiel in Le Havre über 200 Kilometer in einen Pariser Nachtklub fährt. Mit 23, vor vier Jahren, reden die spanischen Experten noch in der Möglichkeitsform von ihm: Er kann ein ganz Grosser werden. Oder ein gewöhnlicher Profi.
In der Karriere des Antoine Griezmann gibt es nicht viele, die auf ihn setzten, aber manchmal braucht ein Fussballer nur einen Menschen, der absolut an ihn glaubt. Griezmann trifft zwei. Olhats und Atléticos Trainer Diego Simeone. 30 Millionen Euro Ablöse zahlt Atlético 2014 für Griezmann, 30 Millionen für einen Jungen, der vielleicht etwas werden kann. Simeone fängt Griezmann mit seinem Enthusiasmus für die Arbeit ein. «Täglich musst du dich wiegen», erzählt Griezmann ein Beispiel der obsessiven Arbeitsethik bei Atlético. «Wenn du nur ein Kilo zu viel wiegst, prangert Simeone das vor dem gesamten Team an. Er mag keine Dicken.» Griezmann lacht leicht und heiter, als er das erzählt. Er nimmt den Eifer Simeones freudig an und entwickelt sich in den zwei Jahren bei Atlético zum kompletten Stürmer, der über 20 Tore pro Saison erzielt und, je nach Bedarf, den schnellen Konterstürmer sowie den passsicheren Kombinationsspieler mimen kann.
Was wäre aus ihm geworden, wäre Eric Olhats nur einen Tag früher oder später von Buenos Aires nach Paris geflogen und hätte nicht jenes Jugendturnier von St. Germain besucht? Der Zufall ist in vielen Karrieren genauso wichtig wie das Talent. Und so wird aus Antoine Griezmann, den sie in Frankreich für zu klein befanden, der Liebling der Nation. «Nach fast zwei Jahrzehnten ohne Erfolge und mit vielen Kontroversen sehnt sich Frankreich nach solch einem Idol», schreibt der Weltmeister von 1998, Bixente Lizarazu, in einer Zeitungskolumne, «natürlich, sympathisch, klar im Kopf.»
«Vamos, vamos!»
Bei seinen Toren für Frankreich während der EM 2016 schreit Griezmann, vermutlich unabsichtlich, seine Freude oft in der falschen Sprache heraus: «Vamos, vamos!» Das Spanisch kommt ihm zwölf Jahre nach seinem Umzug selbstverständlich über die Lippen, «ich denke französisch und fluche spanisch». Seine langjährige Freundin Erika Choperena ist Spanierin, aus San Sebastian (Bild).
Die beiden haben eine zwei Jahre alte Tochter, Mia (unten im Video). Seitdem ist Antoine Griezmann ein anderer geworden – rein äusserlich. Er trägt die Haare nun ordentlich gescheitelt und sieht plötzlich ganz brav aus. «Ich änderte die Frisur, weil ich mir dachte: Was soll Mia denken, wenn sie später Fotos sieht: ‹Was, der Typ mit den affigen Strähnchen ist mein Vater?›.» Ein lautes Lachen schliesst sich an.
Antoine Griezmann kann aus vollem Herzen über sich selbst lachen. Er hat sich, auch als ernsthafter Fussballer und Vater, seine jugendliche Leichtigkeit bewahrt. Im Internet veröffentlicht er Videos, wie er beim Autofahren sorglos und ziemlich falsch zu Popsongs mitsingt oder mit Arschbombe ins Schwimmbecken springt – auch mit braver Frisur. Früher wechselte er ständig zwischen den neusten, wildesten Haarstilen. «Das hab ich von meiner Mutter. Sie probiert wahnsinnig gerne Frisuren aus.» Als Aussenstehender dachte man bei seiner gewagten, stets blondierten Haarpracht automatisch, dass da einer auch beim Haarschnitt David Beckham imitieren wollte. Vielleicht ist Antoine Griezmann heute der letzte Fan auf der Welt, der noch wegen David Beckham das Trikot langärmlig und mit der 7 drauf trägt. Denn Abertausende Kinder tragen das Trikot heute langärmlig mit der 7, weil sie Antoine Griezmann sein wollen.