Schweizer Illustrierte: Udo Jürgens, Sie zeigen sich gerne von rechts. Das ist Ihre Schokoladenseite, stimmts?
Udo Jürgens: Zwangsläufig, weil meine rechte Seite immer zum Publikum zeigt. Die Niere des Klaviers ist rechts und ich schaue über meine rechte Schulter in den Saal - wie übrigens alle Pianisten der Welt. Wenn man 50 Jahre so gespielt hat, ist diese Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen. Ich glaube, mit dieser Seite überzeugender zu sein. Meine Bewegungen stimmen und sind sicher.
Auf dem linken Auge sind Sie fast blind. Ist das auch ein Grund?
Ich hatte von Geburt an auf dem Auge einen grauen Star, den ich schliesslich vor sieben Jahren operieren liess. Das Auge kann jetzt nicht mehr erblinden. Aber ich werde trotzdem weiterhin nur 30 Prozent sehen, weil der Sehnerv das scharfe Bild nicht mehr lernen kann. Ich bin ja links auch fast taub, seit ich als junger Mann einen Schlag aufs Ohr bekommen habe.
Können Sie denn noch Noten lesen?
Natürlich. Aber meine Fingerbewegungen sind wie auf einer Festplatte im Gehirn abgelegt - so stelle ich mir das vor -, denn ich mache sie automatisch. Meine Konzerte spiele ich auswendig. Nur so kann ich sie gut gestalten.
Sie besuchen im Theater 11 in Zürich Oerlikon die Proben zum Ihrem Musical. Wie fühlt sich die Wärme des Scheinwerferlichts auf der Theaterbühne an?
Am Abend und in der Nacht, wenn die Vorstellung vorbei ist und die Zuschauer weg sind, ist es eine Ansammlung von Brettern. Aber sobald das Licht angeht, die Schauspieler und Tänzer kommen, wird sie ein heiliger Ort. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich das erkannt habe. Ich war 13 Jahre alt, der Krieg gerade zu Ende, und ich besuchte mit meinen Eltern zum ersten Mal ein Theater.
Welche Musik hat sie so begeistert?
Die Operette «Das Land des Lächelns» am Stadttheater in Klagenfurt. Die klangvollen Melodien, die Ballettdamen, die Sängerinnen waren schön angezogen und geschminkt. Beim Schlussapplaus habe ich für mich entschieden, dass mein Leben hinter diesem Vorhang stattfinden muss, der da gerade zugegangen ist.
Was haben Sie denn geglaubt, was hinter dem Vorhang ist?
Ich habe mir vorgestellt, dass es dort den ganzen Kleinkrieg des Alltags nicht gibt - und auch keine Schule. Und ich habe mir eingebildet, dass die grössere Wahrheit des Lebens da liegt, wo man über das Leben spricht und versucht, es darzustellen.
Und, ist das so?
Ja, für mich schon. Mein erster Wunsch war, Komponist zu werden. Dass ich auch als Sänger und Interpret riesige Erfolge feiern könnte, daran habe ich überhaupt nicht gedacht, und es war auch nicht mein Ziel. Meine Hoffnung war, Lieder zu schreiben, die mich überleben.
Diese Lieder sind wegen Ihrer Melodien und der kritischen Texte berühmt. Stört es Sie, dass Ihre Gassenhauer an jeder Party gespielt werden?
Ich glaube, jeder Komponist hat seinen Weg gefunden, wenn seine Lieder Volksgut werden. In England gibt es diesen wunderschönen Brauch, dass die Königin Menschen für aussergewöhnliche Leistungen adelt. Ich armes Schwein lebe in Deutschland, der Schweiz und Österreich.
Sie armes Schwein?
Ja! Ich hätte gerne, dass mir eine Königin ein Schwert auf die Schulter legt und mich zum Ritter schlägt. Ich beneide Elton John dafür. Es zeigt, dass man etwas Tolles geleistet hat. Da mag man Witze drüber machen. Aber ich glaube, es ist ein grosser Moment im Leben eines Musikers.
Sie haben über 900 Lieder geschrieben…
…über 1000…
…würden Sie sagen, dass Sie lieber singen, als dass Sie reden?
Nein. Der Gedankenaustausch, der nur übers Gespräch stattfinden kann, ist für mich sehr wichtig. Erst daraus kann ich die Essenz filtern, die eventuell zu einem Lied führt. Ich diskutiere momentan oft über die Aufstände in der islamischen Welt. Sie beunruhigen mich ungeheuer.
Ist das guter Stoff für ein Lied?
Seit Jahren denke ich über das Thema Orient und Abendland nach. Zehn Entwürfe liegen in meiner Schublade. Doch es gelingt mir nichts, hinter dem ich stehen kann. Ich bleibe aber dran. Ganz wichtig ist auch, nichts zu tun.
Ich liege regelmässig mit offenen oder geschlossenen Augen den ganzen Nachmittag auf dem Rücken und bin scheinbar faul. Doch in mir passiert ganz viel. Das ist ein unerhörter Denkvorgang. Es kann passieren, dass ich aufstehe und die Wurzel zu einem neuen Lied oder die Idee für ein neues Buch habe.
Träumen Sie auch, wenn Sie schlafen?
Ja, unglaublich viel und Gott sei Dank nicht mehr solche Albträume wie in meiner Jugend.
Sie hatten Albträume?
Es war dramatisch. Drehende Walzen, die unter grossem Lärm drohten mich zu zermahlen. Für meine Kreativität war das ein sehr wichtiger Vorgang. Meine Träume waren so surreal, ich konnte sie nicht mal in mein Tagebuch schreiben. In der Musik und im Klang habe ich diese schrecklichen inneren Bilder aufgearbeitet.
Leiden Sie heute noch darunter?
Es hat sich im Laufe der Jahre gegeben. Sehr selten träume ich jetzt, dass ich fliegen kann. Einfach die Arme ausbreiten und abheben. Vielleicht führt das noch dazu, dass ich ein Album zu diesem Thema rausbringe.
Das klingt, als sei die Musik immer Ihre Medizin gewesen?
Mein Klavier war immer mein Sehnsuchtsort. Sobald ich gespielt habe, standen die Menschen mit offenem Mund da. Schon als 13-Jähriger konnte ich erstaunlich gut ganze Teile aus Opern nachspielen, obwohl ich überhaupt keine Noten beherrschte. Später litt ich am Konservatorium unter dem Klavierunterricht.
Weil Sie Ihren Feld-Wald-und-Wiesen-Stil ablegen sollten?
Weil mein Feld-Wald-und-Wiesen-Stil sehr gut funktioniert hat und man versuchte, mich umzupolen auf eine klassische Technik. Heute spiele ich eine Mischung aus beidem.
Ist nicht genau diese Mischung Ihre Stärke?
George Gershwin war mein Idol. Ich wusste, dass er am Broadway mit Tonartwechseln innerhalb eines Liedes Furore gemacht hatte. Das ist ein Stilmittel, das es in unserer Volks- oder Schlagermusik nicht gab. Als ich «17 Jahr blondes Jahr» komponierte, habe ich schon nach acht Takten die Tonart gewechselt. Das war unbekannt, und es wurde ein Erfolg. Seitdem habe ich immer auf diese Art weiterkomponiert.
Der Broadway hat Sie magisch angezogen. Sie waren über vierzig Mal in New York.
Früher bin ich zweimal im Jahr hingeflogen. Als ich es mir noch nicht leisten konnte, eine Karte für ein Musical zu kaufen, habe ich mich in den Hinterhöfen an die Türen gestellt, wo die Arbeiter die Kulissen raus- und reinschoben. Das ist nahe an der Bühne. Stundenlang stand ich dort und habe die neueste Musik gehört.
Hat Sie nie jemand weggejagt?
Doch, einmal in Las Vegas. Als junger Student bin ich durch die USA gereist. Weil ich mir kein Hotel leisten konnte, schlief ich in der Wüste vor Las Vegas im Auto und fuhr tagsüber in die Casinos. Dort trat Sammy Davis Jr. auf, und ich lauschte zehn Minuten unentdeckt den Proben. Dann haben mich die Wachleute weggeschickt. Später dann habe ich für Sammy komponiert!
Das zeigt: Wenn man seinem Stern folgt, werden Träume wahr.
Die Leute meinen immer, Erfolg wird einem geschenkt. Wie im Märchen. Wenn man nett ist zu einer Fee, bekommt man tolle Dinge einfach so. Das ist Unsinn. Glück kann man nicht kaufen, aber man kann dafür arbeiten.
Gibt es denn eine Voraussetzung für Glück im Leben?
Die Voraussetzung ist Disziplin. Es gibt ein Grundwissen, ohne das geht nichts. Heute streben viele junge Musiker gar nicht mehr an, irgendwas zu können.
Was treibt diese jungen Künstler denn?
Sie wollen bekannt werden. Wer nur davon ausgeht, wird enttäuscht. Ein wichtiger Motor ist auch der Zweifel. Wer nicht zweifelt, hört auf, sich zu entwickeln. Ich schöpfe aus meinen Zweifeln bis heute Kraft.
Sie sind jetzt 78 Jahre alt. Was, wenn Sie mal nicht mehr musizieren können?
Noch möchte ich weiter arbeiten. Das ist wichtig für mich. Meine Arbeit ist für mich meine Therapie, mit der ich meine Ängste bekämpfe. Und sonst finde ich Trost in Gesprächen mit meinem Bruder. Er ist Maler. Wir reden stundenlang über Kunst.
Beides ist verwandt. Es heisst ja, dass Musik Farben hat.
Stimmt. Sehen Sie, ich habe immer empfunden, dass F-Dur eine blaue Tonart ist, F-Moll hingegen nicht. Logisch erklären kann ich das nicht.
Start der Konzerttournee «Der ganz normale Wahnsinn» am 18. Oktober 2012 in Saarbrücken (D). Das einzige Konzert in der Schweiz ist am 28. Oktober 2012 in Zürich. Das Musical «Ich war noch niemals in New York» mit den Songs von Udo Jürgens startet am 1. November 2012 im Theater 11, Zürich Oerlikon.