Das Rezept von Ignazio Cassis gegen Nervosität? Joggen! «Danach schlafe ich wie ein Stein – auch als Bundesratskandidat», sagt der Tessiner FDP-Nationalrat bei einem Glas Orangensaft in der «Brasserie 11» im Berner Monbijouquartier.
In der Nähe hat er eine kleine Altbauwohnung gemietet. Sein Schlafplatz unter der Woche und der Start für die abendliche 25-minütige Joggingrunde der nahen Aare entlang.
Frau Paola ist seine Säule
Die Wochenenden gehören seiner Frau Paola, 54. Im Haus in Montagnola bei Lugano entspannen sie sich beim Pflanzen von Tomaten im eigenen Garten. «Am Wahltag wird Paola bei mir in Bern sein. Sie ist meine Colonna, meine Säule, sie gibt mir Kraft!» In knapp zwei Wochen ist es so weit.
«Andere wollen den Mount Everest besteigen, ich will in den Bundesrat», sagt Cassis zur Motivation, in die Fussstapfen von Didier Burkhalter zu treten. Ihn reize die Herausforderung, und er habe Lust auf das Amt. «Zudem verfüge ich über die nötige Reife» – ein kleiner Seitenhieb auf seinen jüngeren Konkurrenten Pierre Maudet, 39, aus Genf.
«La mamma» ist von der Kandidatur nicht begeistert
Weniger begeistert über seine Kandidatur ist Cassis’ 83-jährige Mutter Mariarosa. «Willst du dir das wirklich antun?», habe die strenggläubige Katholikin gesagt. Als einziger Junge neben drei Schwestern ist Ignazio ihr Liebling. Zwei- bis dreimal pro Woche telefoniert er mit «la mamma». Am Sonntagmittag besucht er sie jeweils im 700-Seelen-Dorf Sessa zum Mittagessen. «Sie ist besorgt, dass ich als Bundesrat nicht mehr so happy wäre.»
Cassis ist eine Frohnatur. Sieht man ihn in der Wandelhalle, grüsst er mit einem Lächeln im Gesicht, verschickt er ein SMS, dann gerne mit sonnigen Grüssen und einem Sünneli-Symbol. Kein Wunder also, dass SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz sagt: «Mit Cassis könnte man morgen in die Ferien fahren.»
Doch es gibt durchaus Dinge, die den Tessiner auf die Palme treiben: «Mangelnder Respekt gegenüber Schwachen. Da kann ich laut werden.» Diese Haltung sei ihm von den Eltern mitgegeben worden. Seine Mutter hatte Kinderlähmung, braucht eine Gehhilfe. «Sie wird an den Bundesratswahlen auch nicht dabei sein. Dafür kommen meine drei Schwestern nach Bern!»
Progressive Haltung in der Drogenpolitik
Cassis’ Vater Gino lebt nicht mehr. Vom Landwirt und späteren Versicherungsvertreter erbte Cassis die italienische Staatsbürgerschaft. Dass er den italienischen Pass just nach seiner Nomination als Bundesratskandidat abgegeben hatte, sorgte für Kritik. Er biedere sich bei der SVP an, wetterte SPler Cédric Wermuth. «Stimmt nicht», sagt Cassis. In seiner Vision der Schweiz seien Mitglieder der Exekutive die höchsten Botschafter des Landes. «Deshalb finde ich, dass die Bundesräte keine andere Staatsbürgerschaft haben sollen.»
Hat Cassis eine klare Haltung, zieht er sie durch. Das zeigt der ehemalige Tessiner Kantonsarzt in der Drogenpolitik. Im ersten Jahr als Nationalrat 2007 weibelte er für ein Ja zur Hanfinitiative, gab offen zu: «Ich habe schon gekifft.» Diese Woche spricht er sich in der «Aargauer Zeitung» für eine Legalisierung von Kokain aus.
«Ich bin weder für eine Kiosklösung noch für eine unwirksame Prohibition, sondern für einen geregelten Markt», präzisiert er gegenüber der Schweizer Illustrierten. Der Zugang soll für Erwachsene so geregelt sein wie bei Medikamenten. Angst, dass ihn diese Haltung Stimmen kosten könnte, hat er nicht. «Ich stehe dazu. Giftige Kritik bin ich mich als Politiker gewohnt.»
Für seine Frau Paola sind manche Schlagzeilen um ihren Mann schwieriger zu ertragen – vor allem wenn es um Privates geht. «Wenn sich plötzlich die ganze Schweiz über unser Blümchensofa lustig macht, trifft sie das», sagt Cassis. Aber er wisse von anderen Bundesräten, dass es für deren Partner oft nicht leicht sei. «Ich bin deshalb sehr froh, dass Paola hinter meiner Kandidatur steht.»
Anfangs als fremder Fötzel behandelt
Mit der Radiologin aus dem Sopraceneri ist Cassis seit 21 Jahren verheiratet. «Eine Nordtessinerin und ein Südtessiner – das ist fast so schwierig wie bei Romeo und Julia», witzelte Cassis im Mai. Kinder haben die beiden keine – «es wollte einfach nicht klappen». Dafür erkunden sie gemeinsam die Welt – wie zuletzt Bangladesch. Als Aussenminister wäre Cassis beruflich viel unterwegs. «Wir müssten uns neu organisieren.»
Klar ist: Aus dem Tessin zieht er nicht weg. «Meine Herkunft hat mich geprägt.» Als Medizinstudent in Zürich habe er erlebt, wie Tessiner ausgelacht wurden. «Mit meinem italienischen Akzent wurde ich anfangs als fremder Fötzel behandelt.» Statt aufzugeben, entwickelte Cassis – Major im Militär – eine «Überlebensstrategie». «Die Charmeoffensive!» Etwa indem er die Zürcher Studentinnen mit Risotto bekochte.
Für Ignazio Cassis ist klar: «Unsere Kultur, unser Humor, unsere Lebenseinstellung muss in der Landesregierung vertreten sein!» Die Chancen, dass es am 20. September für den Südkanton klappt, stehen so gut wie lange nicht mehr. Für Cassis hiesse das vor allem: viel Arbeit. «Meine Joggingrunde werde ich nicht aufgeben – den tiefen Schlaf brauche ich dann umso mehr!»