Alex Wilson, Sie haben zuletzt den Schweizer Rekord über 200 m mehrfach verbessert, stehen nun bei international sehr starken 20,14 Sekunden. Sind Sie eher der 200-m-Spezialist als der 100-m-Titelanwärter?
Momentan wohl schon. Ich habe diese Saison noch nicht so viel für den 100er gemacht. Der Keyplan ist eine Medaille über 200 m an der EM in Berlin. Jetzt werden wir aber die Arbeit am 100er intensivieren. Ich laufe zwar eigentlich lieber die längere Sprintdistanz, weil ich da mehr Potenzial sehe, auch weil ich ein guter Kurvenläufer bin. Aber die 100 Meter sind halt die Königsdisziplin.
Ihr Langzeit-Ziel ist es ja, über 100 Meter unter 10 und über 200 Meter unter 20 Sekunden zu laufen. Ihre Schweizer Rekorde stehen bei 10,11 beziehungsweise 20,14 Sekunden. Eigentlich sind Sie damit über die kürzere Strecke näher dran, diese Vorgaben zu erfüllen, oder?
Das täuscht mega! Über 200 Meter ist es eindeutig einfacher, die Zeit zu drücken. Die Annäherungschritte über 100 Meter sind wesentlich grösser. Ich lief unlängst 200 m in 20,25 Sekunden – bei 1,8 m Gegenwind. Umgerechnet auf 1,5 Meter Rückenwind, kommt man theoretisch bei 19,80 ins Ziel. Also muss eine 19er-Zeit einfach drinliegen.
Dieses Jahr ordnen Sie alles der EM unter. Gefährdet das nicht andere Ziele, zum Beispiel diese Rekorde?
Nein. Ich kann die Saison nicht einfach freestyle angehen und hoffen, dass ich dann auf die EM gerade gut in Form bin. Das haben wir sehr genau so geplant. Und der Fahrplan stimmt auch. Dieses Jahr hat mich noch kein Europäer über eine der beiden Distanzen bezwungen, und ich bin praktisch gegen alle gelaufen. Wenn ich meine erzielten Zeiten in Berlin auf die Bahn bringe, wird ganz Europa Probleme mit mir haben.
Sie sprachen sogar von drei Medaillen in Berlin. Ganz schön gefährlich, oder?
Weshalb? Ich erkläre Ihnen meine Überlegung: Vor der EM 2014 sprach ich vom Halbfinal. Den habe ich erreicht und wurde Letzter. In Amsterdam vor zwei Jahren wollte ich in den Final. Ich erreichte ihn und wurde Letzter. Das heisst, dass ich mir einfach zu tiefe Ziele gesetzt hatte. Deshalb spreche ich dieses Jahr nur noch von Medaillen.
Sie arbeiten seit 2016 mit zwei Trainern an Ihrer Trainingsbasis in London zusammen, Lloyd Cowan und Clarence Callender. Wie unterscheiden sich deren Aufgaben?
Einer schreibt den Plan, der andere führt ihn mit mir aus. Mit Lloyd arbeite ich eher in den längeren Trainingsphasen zusammen. Er ist eigentlich der Headcoach, im täglichen Training arbeite ich aber öfter mit Cally.
Wir führen dieses Interview in Basel, nicht in London.
Ja, momentan bin ich vorwiegend in der Schweiz. Die Trainer wollen, dass ich nicht zu viel Energie mit der Reiserei verschwende. Sie wollen, dass ich im Hinblick auf Berlin völlig in meiner Komfortzone bin, und das bin ich zu Hause in Basel. Wir telefonieren aber täglich, ich muss um sieben Uhr früh auf dem Trainingsplatz stehen, dann geben sie mir mein Programm durch.
Ein teures Konstrukt, nicht? Wie finanzieren Sie das?
Stimmt, es ist teuer. Allein die Trainer kosten 2500 Franken im Monat, der Verband bezahlt einen Teil daran. Zudem erhalte ich von der Sporthilfe einen fünfstelligen Betrag im Jahr. Zusammen mit dem, was mir Haupt-sponsor Merian Iselin Klinik und auch Puma bezahlen, komme ich über die Runden. Und inzwischen habe ich einen Status in Europa, der mir Startgelder einbringt.
Sie haben im Frühjahr in Florida mit Justin Gatlin trainiert, nach eigenen Angaben viel von ihm profitiert. Nun ist er aber ein mehrfach überführter Doper. Keine Angst, dass etwas an Ihnen hängen bleibt?
Es gibt tatsächlich Leute, die zu Hause auf ihrem Sofa sitzen und mich dafür kritisieren. Aber ich sage Ihnen etwas: Gatlin hat betrogen, stimmt. Doch wer meint, er habe gedopt, um dann gemütlich rumsitzen zu können, hat keine Ahnung. Er hat gedopt, um noch härter trainieren zu können. Und wie er trainiert, daraus kann ich viel lernen. Deshalb habe ich auch keine Angst um meinen Ruf, wenn ich von ihm profitieren kann.
Auch Sie trainieren täglich von acht Uhr morgens bis zwei Uhr am Nachmittag. Dabei hatten Sie den Ruf, bloss ein fröhlicher «Plauderi» ohne Biss zu sein. Wollten Sie etwas an diesem Image ändern?
Weshalb denn? Ich war nie «en fuule Siech». Auch wenn ich nicht immer alles richtig gemacht, auch oft die Trainer gewechselt habe. Aber ich habe mich unter allen kontinuierlich verbessert. Das ist auch der Grund, warum ich nach London gewechselt bin. Ich habe jetzt genug Lehrgeld bezahlt. Fertig mit Schnuppern an der Elite. Jetzt will ich es wissen.
Welches ist eigentlich das beste Alter für einen Sprinter?
Zwischen 27 und 31. Also ab jetzt für mich.
Und deshalb müssen Sie an der EM reüssieren. Setzen Sie sich unter Druck?
Nein. Ich weiss, ich kann es packen. Würde ich mir wieder grosse Ziele setzen, ohne die leistungsmässige Rechtfertigung dafür mitzubringen, hätte ich Druck. Wenn man sich untouchable fühlt, hat man keinen Druck.
Sie fühlen sich untouchable?
Ja, genau. Ich bin bereit. Diese Saison bin ich genau einmal kacke gelaufen, in Lausanne. Da war ich aber todmüde am Start. Wir hatten uns verpokert mit zu vielen Starts am Wochenende zuvor in La Chaux-de-Fonds. Der Trainer wollte unbedingt, dass ich laufe.
Er scheint ohnehin wenig Rücksicht auf Ihr Wohlbefinden zu nehmen. Stimmt das mit den 400-m-Läufen am Ende des Trainings, die Sie so oft absolvieren müssen, bis sie es unter 49 Sekunden schaffen?
Ja, stimmt. Mich hats dieses Jahr schon dreimal erwischt. Da kennt Cally gar nichts. Er sagt: Ich habe nichts anderes zu tun, ich kann so lange hier auf der Anlage bleiben, bis du die Vorgabe erfüllst. Er macht dich fertig mit seiner Trillerpfeife, echt! Und dann bauen sie ab und zu Ausdauerläufe ins Programm ein – das Schlimmste für einen Sprinter. Du denkst, du spinnst. Aber ich vertraue ihnen. Und es zahlt sich aus.
Ihre Heimat Jamaika, wo die besten Sprinter herkommen, war nie ein Thema als Trainingsbasis?
Nicht nötig. Meine Coaches arbeiten mit jamaikanischen Trainern zusammen. Ich mache das gleiche Programm wie die Top-Sprinter Jamaikas. Zudem habe ich hier in Europa bei Bedarf die viel bessere ärztliche und physiotherapeutische Betreuung.
Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Das Publikum kennt Sie als den fröhlichen Sprücheklopfer …
Gopferdeggel! (lacht schallend)
… dessen Interviews spätestens seit der WM in London Kultstatus haben. Ist das eigentlich eine Rolle, Ihre muntere Art?
Also wirklich nicht, nein. Mich gibt es nicht anders. Ich war immer so, aber es ist früher vielleicht weniger aufgefallen. Nur wenns runter geht zum Start, kannst du Sprüche von mir vergessen.
Sehen Sie hier im Youtube-Video, wie Alex Wilson nach seinem Halbfinal-Einzug an der WM in London für Lacher sorgte:
Seit einem halben Jahr sind Sie Vater eines Sohnes. Hat das auf Ihre Art oder auf Ihren Beruf als Sportler einen Einfluss?
Ja klar! Es hat mich zusätzlich motiviert, und möglicherweise ist es kein Zufall, dass ich dieses Jahr konstant so schnell laufe. Vater zu werden, ist die geilste Sache, die mir passieren konnte. Zu wissen, dass man für jemanden verantwortlich ist, spornt an.
Höchstleistung auch neben dem Platz? Rekordtempo als Teilzeit-Hausmann?
Wenn ich denn zu Hause bin … Ich arbeite gern im Garten unseres Hauses, und ich koche für meine Familie. Das liebe ich, und ich kanns auch recht gut. Nur jamaikanisch! Mein Jerk-Chicken ist legendär.
Bei den Schweizer Frauen hat Mujinga Kambundji mit ihren 10,95 Sekunden über 100 Meter eben geschafft, wohin Sie noch auf dem Weg sind: Das Durchbrechen einer Sprint-Schallmauer. Ist sie für Sie mehr Inspiration oder Hemmnis?
Mujinga ist eine sehr, sehr gute Kollegin von mir. Und sie spornt mich mit ihren Leistungen an. Aber nicht nur sie; die Frauen machen im Sprint in der Schweiz allgemein Druck auf die Männer. Ich wünschte, es würden sich noch mehr Männer bei uns so angestachelt fühlen wie ich.
Mujinga läuft mit Salome Kora, Sara Atcho und Ajla Del Ponte auch in einer Weltklasse-Staffel. Beschäftigt Sie, dass die Männer kein solches Quartett auf die Bahn bringen?
Es stinkt mir sogar mega, wenn ich ehrlich bin. Ich liebe die Staffel, wir hatten vor ein paar Jahren auch ein Super-Team. Und wissen Sie, wie viel Geld ich investiere in meine sportlichen Träume? Ich hinterfrage mich jeden Winter, was ich verändern muss, um nächste Saison noch besser zu werden, auch als Staffelsprinter. Aber ich kann das nur für mich selbst tun, nicht für andere. Trotzdem, ich werde in Berlin die Staffel laufen, auch wenn wir leistungsmässig nicht dort sind, wo wir sein könnten.
Gibt es eigentlich etwas, was Ihnen die gute Laune verderben kann?
Nein! Ich bin Jamaikaner, und wir haben halt die gute Laune im Blut. Was soll man sich aufregen über Dinge, die man doch nicht ändern kann?
Mit 15 Jahren kamen Sie in die Schweiz, seit 2010 besitzen Sie den Schweizer Pass. Wie viel Jamaika steckt noch in Ihnen?
Was solli saage? Viel! Ich bin jetzt 27, habe also noch mehr als die Hälfte meines Lebens in Jamaika verbracht. Aber vom Gefühl her bin ich fifty-fifty. Das Schweizerische an mir ist meine Pünktlichkeit und mein Ehrgeiz, etwas erreichen zu wollen. Das Jamaikanische die Lockerheit und Unbeschwertheit, die Überzeugung, dass ich alles erreichen kann, was ich mir zum Ziel gesetzt habe. Für den Jamaikaner in mir gilt: The sky ist the limit. Der Schweizer würde sagen: Immer schön am Boden bleiben.
Das lockere Mundwerk ist jamaikanisch?
Klar! Das ist doch okay. Dieses Interview, diese Fragen, das wollten Sie. Und ich bin dabei. Ich könnte jetzt irgendeinen Schissdrägg erzählen, Sie müssten es ja glauben. Aber ich gebe den Medien nur ehrlich Antworten auf das, was ich gefragt werde.
Sie fliegen jedes Jahr in Ihre alte Heimat, in die Karibik?
Ja, mindestens einmal. Dieses Jahr zwei Mal. Ich habe hier in der Schweiz meine Familie, aber die Verwandtschaft lebt dort. Und Jamaika ist ein geiles Land. Ich habe dort weder Stress noch Zeitdruck. Das liebe ich.
Eine Zukunft auf der Insel ist denkbar?
Fifty-fifty. Einen Teil des Jahres hier und einen in Jamaika. Das könnte es sein.
In Ihren Social-Media-Auftritten kommt immer wieder auch der Dank an Gott vor für das Leben, das Sie haben. Religiosität als jamaikanisches Erbe?
Absolut! Das ist dort etwas vom Wichtigsten. Bis ich 15 war, ging ich jeden Sonntag zur Kirche. Wenn immer möglich, versuche ich auch hier, den Gottesdienst zu besuchen. Und ich bete vor den Rennen. Gott ist ein und alles.
Nochmals zum Sport: Trotz Spitzenzeiten fehlt Ihnen noch ein Exploit an Grossanlässen. Wieso klappt es diesmal in Berlin?
Ich fing erst mit 17 mit der Leichtathletik an und lief mit 19 erstmals an der Nachwuchs-EM. Da bekam ich wegen meiner Unerfahrenheit grausam eins auf den Deckel. Nachher gabs, mit Halbfinalqualifikationen bei Olympia und an EM, gute Ergebnisse. Dann kamen die Verletzungen. Ich musste unten durch. Nun bin ich erfahrener, älter, aber körperlich gleichzeitig frischer. Mein Trainer sagte nach der Rückkehr aus Florida: Ich hab meinen Job gemacht, Alex, jetzt bist du dran. Deshalb glaube ich an meine Medaille.
Und wenns nicht klappt damit?
Dann muss ich sagen: Time for something new! Dann sollen die Jüngeren ran. Aber ich will ich mich gar nicht beschäftigen mit dem, was misslingen könnte, sondern nur mit dem, was möglich ist. In Berlin geht es um alles.
Das ist eine Story aus SI Sport, Ausgabe 4 vom 3. August 2018.