SI Gruen: Barbara Lüthi, Sie sind nach 14 Jahren in Asien von Hongkong nach Zürich Oerlikon gezogen. Ihren Kindern Lara und Dylan, die mehr Weltenbürger denn Schweizer sind, muss die Heimat ziemlich fremd vorkommen, oder?
Anfangs waren sie irritiert und fragten ständig: «Where are all the people? – Wo sind all die Menschen?» Sie fanden es so leer hier. Sie mussten sich auch daran gewöhnen, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Die Asiaten lieben Kinder – insbesondere solche mit blauen Augen und blonden Haaren. Inzwischen geniessen die beiden aber ihre neuen Freiheiten, beispielsweise dass sie nun alleine und zu Fuss in die Schule gehen können. In Hongkong musste ich sie jeden Morgen zum Schulbus fahren.
Wie haben Sie sich persönlich verändert in den vergangenen Jahren im Ausland?
Ich bin viel dankbarer und demütiger geworden. In Asien besuchte ich viele Slums. Und ich habe gesehen, mit welchem Elan Menschen kämpfen, wenn sich ihnen eine Aufstiegschance bietet. Im Gegensatz dazu jammern wir hier auf hohem Niveau. Es ist leicht, zu vergessen, wie privilegiert wir sind.
Sie haben in Asien Erdbeben erlebt, über den Tsunami in Japan berichtet – in Leutschenbach ist der Takt viel gemächlicher. Langweilen Sie sich nicht?
Nein, gar nicht. Ich bin sehr gefordert. Zu meinem Naturell gehört, dass ich bei allem, was ich mache, immer 150 Prozent gebe. Ich lebe sehr im Moment.
Langsamkeit entspreche nicht Ihrem Naturell, haben Sie mal gesagt. Ecken Sie mit Ihrer Person an?
Sicher (lacht).
Nach den ersten «Club»-Sendungen schrieben einige Medien, Sie wirkten zu aufgekratzt.
Ich wurde in meiner Anfangszeit als Korrespondentin auch für meine lebhafte Art kritisiert. Das hat sich dann aber gelegt. Ich nehme solche Rückmeldungen sehr ernst und will mich immer verbessern. Doch ich bin direkt, sage, was ich denke, und habe ein eher unschweizerisches Temperament. Damit polarisiert man. Mich kann man mögen oder nicht – ein Dazwischen ist schwierig.
Hatten Sie als Korrespondentin den Ehrgeiz, mit Ihrer Arbeit die Welt zu verbessern?
Dieser Anspruch hat doch jeder Korrespondent. Man will aufdecken, informieren, Fragen stellen, die niemand stellt, und jenen Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben. Eines meiner schönsten Erlebnisse war, als nach meinem Bericht Arbeiter, die in einer Fabrik vergiftet wurden, Kompensationszahlungen erhielten.
Und was ist mit all den Fällen, bei denen Sie gegen Windmühlen kämpften?
Dieses Gefühl hatte ich nie, es lohnt sich immer. Journalismus ist mein Leben. Eine unstillbare Neugier treibt mich an. Jeder Mensch ist ein Universum, ich will wissen, was dahintersteckt. Diesen Drang hatte ich schon als Kind. Als Achtjährige lief ich mit der Haarbürste in der Hand durchs Zugabteil und interviewte die Fahrgäste. Ich begann sanft mit «Wohin fahren Sie?» und endete mit «Haben Sie Angst vor dem Sterben?». Meine Eltern visierten mit der Zeit nur noch Abteile mit wenig Menschen an. Denn ich habe nicht nur gefragt, sondern auch bereitwillig alles über meine Familie erzählt.
Viele denken bei China als Erstes an Smog und Umweltverschmutzung. Wie weit stimmt dieses Bild?
China weckt grundsätzlich viele negative Assoziationen. Doch Umweltverschmutzung und Smog sind globale Themen, denn unser Wachstum hängt mit dem chinesischen zusammen. Wenn die Regierung in Peking Massnahmen ergreift und zum Beispiel die Nummernschilder durch eine Lotterie vergibt, schreien die Autohersteller in Europa auf. Genauso verhält es sich mit Kleidung: Millionen von Menschen in China haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser – auch weil die Fabriken, die unsere Jeans produzieren, ihr Abwasser ungefiltert in die Flüsse leiten.
Soll man Produkte aus Asien meiden?
Ein Boykott kann kurzfristig hilfreich sein. Langfristig muss bei uns, bei den Konsumenten, aber vor allem die Bereitschaft entstehen, für ein Produkt mehr zu bezahlen. Jeder Jeanshersteller in China kann eine Kläranlage einbauen – dann muss er aber für die Hose mehr bekommen.
Wie haben all diese Erfahrungen Ihr Verhalten beeinflusst?
In Peking kaufte ich Gemüse von Bio-Bauern, die ich vorher besucht habe, denn viele Nahrungsmittel sind wegen der kontaminierten Böden nicht sauber. In Hongkong nutzte ich dann sehr rege die Sharing-Economy, um dem Konsum zu entkommen. Über eines der Netzwerke habe ich mir Abendkleider ausgeliehen – und dabei gleich Menschen aus meinem Quartier kennengelernt.
Ich kaufe ganz wenig und trage meine Kleidung sehr lange. In meinem Schrank hängt sogar noch mein Konfirmationsanzug.
Und nun in der Schweiz?
Wir leben in einer neuen Überbauung in Zürich Oerlikon, die entspricht dem Minergie-Standard. Abfalltrennung, Kompost, vieles läuft hier gut, aber nicht alles: Kürzlich besuchten uns die beiden balinesischen Mädchen von Bye Bye Plastic Bags. Sie kämpfen dafür, dass es ab 2018 auf Bali keine Plastiktüten mehr gibt. Dafür erhielten sie im November einen Bambi. Die beiden trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, dass wir in den Schweizer Supermärkten noch Plastiktüten haben!
Wir haben über die Kleiderproduktion in China gesprochen. Shoppen Sie nun anders?
Ja, total. Ich kaufe ganz, ganz wenig und trage meine Kleidung sehr lange. Den Blazer, den ich heute anhabe, habe ich seit zwölf Jahren. In meinem Schrank hängt sogar noch mein Konfirmationsanzug.
Besitzen Sie ein Auto?
Nein, und ich möchte auch keins. Ich bin schon ohne Auto aufgewachsen. Meine Eltern sind sehr naturverbunden.
Als Korrespondentin mussten Sie viel fliegen. Wie sieht es heute aus?
Es gibt zurzeit keinen Grund, ins Flugzeug zu steigen. Ich will die Schweiz erkunden.
Wie sind Sie unterwegs?
Mit dem öffentlichen Verkehr oder dem Velo. Ich bewege mich auf kleinem Raum: Mein Arbeitsplatz ist in der Nähe, am Wochenende gehe ich mit den Kindern in den Wald. Mein Leben ist überschaubar geworden – und zu meiner Überraschung liebe ich das sehr.
Ich habe ein eher unschweizerisches Temperament. Damit polarisiert man. Mich kann man mögen oder nicht – ein Dazwischen ist schwierig.
Wie sind Sie als Kind aufgewachsen?
Ich bin ein Seemeitli von der Pfnüselküste. Meine Schwester und ich hatten eine glückliche Kindheit. Unseren Eltern war es zum Beispiel wichtig, dass wir erst die Schweiz kennenlernten, bevor wir nach Italien ans Meer fuhren. So sind wir dreimal in den Sommerferien von Thalwil zu unseren Grosseltern ins Tessin gewandert. Wunderbar war, dass man unterwegs viel Zeit zum Reden hatte.
Ihre Mutter ist Märchenerzählerin, Ihr Onkel gründete Mummenschanz mit, Ihre Tante war Modedesignerin. Das klingt nach einer kreativen Familie.
Das stimmt. Meine Mutter erzählte auf Radio Z Märchen. Abends übermittelte sie mir übers Radio Botschaften – zum Beispiel, dass Prinzessin Barbara wieder mal ihr Zimmer im Schlossturm aufräumen sollte … Mein Vater war Kommunikationstrainer bei Economiesuisse und sorgte für den gutbürgerlichen Einfluss. Bei unseren Familienfesten wurde gelacht, diskutiert, politisiert und viel gestikuliert. Das hat mich geprägt.
Was für Grundwerte vermitteln Sie Ihren Kindern?
Wir lachen auch viel zu Hause und diskutieren zusammen über Politik, Umweltschutz und Gerechtigkeit. Lara und Dylan sollen sich zu eigenständigen, verantwortungsvollen Personen entwickeln. Bevor wir in die Schweiz zurückkehrten, verbrachten wir Ferien in Kambodscha. Meine Kinder packten alle Spielsachen und Kleider ein, die sie nicht mehr brauchten, und verschenkten sie in einem Slum. Mit Lara besuchte ich ausserdem eine Schule: Beim Morgenturnen sahen wir ein Mädchen ohne Schuhe. Meine Tochter zog spontan ihre Turnschuhe aus und schenkte sie ihm. Dieser Moment hat mich glücklich und stolz gemacht.