Der König kommt zu Besuch! Im Konferenzsaal des Kinderspitals Kantha Bopha V in Phnom Penh wird eine Empore für Seine Majestät und die Königinmutter errichtet. Die Kambodschaner sind ein devotes Volk, entsprechend gross ist die Aufregung an diesem Mittwochmorgen – dem Tag des 25-Jahr-Jubiläums der Kantha-Bopha-Kinderspitäler.
Zur Feier kommen neben den Royals auch der Gesundheitsminister und die First Lady von Kambodscha, Madame Hun Sen. Auch sie muss auf dem heissen Asphalt warten, bis King Norodom Sihamoni eintrifft. Das gehört zum Protokoll. Nicht so die Schweizer Nationalfarben, in denen der Saal dekoriert wurde: Sie sind eine kleine Geste zu Ehren eines anderen Helden – sozusagen des Königs der Herzen: Dr. Beat Richner, von den Einheimischen vergöttert und deshalb oft «Dr. God» genannt.
Richner fehlt beim Jubiläum
Von alldem weiss Dr. Beat Richner nichts. Er verbringt diesen 15. November in einem so gemütlich wie nur möglich hergerichteten Zimmer eines Zürcher Pflegeheims. Hier lebt er seit einem halben Jahr. Er lässt sich helfen – etwas, das er sonst ungern zuliess. Ein Radio spielt klassische Musik, Dr. Richner freut sich wie eh und je über Süssigkeiten, lacht wie früher über die Witze seiner Besucher.
Er weiss nicht, was er gerade verpasst. Leider. Oder zum Glück. Das Wissen um seine Kinderspitäler in Kambodscha, um sein Lebenswerk, all die Mühen und Strapazen, aber auch all die Millionen geheilter Kinder, das alles scheint ausgelöscht, vergessen.
Richner leidet an einer seltenen und unheilbaren Hirnerkrankung mit zunehmendem Funktions- und Gedächtnisverlust. Anfang Jahr – der Kinderarzt wirkte immer häufiger verwirrt – wurde er in die Schweiz begleitet, um sich hier untersuchen zu lassen. Seither schreitet die Krankheit schnell voran. Einen Namen dafür gibt es ebenso wenig wie ein Gegenmittel. Zu akzeptieren, dass man einem so bekannten Kollegen keine genaue Diagnose stellen kann, war für die untersuchenden Ärzte nicht einfach.
Richners Gedächtnis weist immer mehr Lücken auf
Auch Richners Geschwister müssen damit zurechtkommen. «Fast immer wenn ich Beat sehe», erzählt seine ältere Schwester Anna-Regula, «fehlt ein weiteres Puzzlestück von ihm.» Mal sei es eine Erinnerung, mal eine motorische Fähigkeit. Man wisse nie, was einen erwartet. «Das ist schwer zu ertragen.»
Der einzige Trost: Dr. Richner leidet nicht. Es gehe ihm gut, versichert er. Er hadert nicht, wenn ihm Namen und Wörter nicht einfallen, lebt in seiner Welt, ist milde und ruhig, wie er es als rastloser Macher und «Polteri» nicht immer war.
Im fernen Kambodscha trifft derweil der royale Tross ein. Dr. Peter Studer, Beats engster Vertrauter und nun sein offizieller Nachfolger, geht in die Knie, um sich – so will es das Zeremoniell – dem König zu unterwerfen. Bei fast zwei Metern Körpergrösse keine leichte Aufgabe. Überhaupt ist Studer angespannt. Denis Laurent, neben Richner der zweite Europäer im sonst komplett kambodschanischen Spital-Team, hat die Jubiläumsfeier perfekt organisiert, ein wunderschönes «Information Center» mit Bildern zur Kantha-Bopha-Geschichte eingerichtet.
«Das ist mein Nachfolger»
Doch seine bevorstehende Jubiläumsrede hat Studer nächtelang beschäftigt. Persönlich sollte sie sein. Und trotzdem durften ihn vor Publikum nicht die Emotionen übermannen. Allein schon die ausgestellten Bilder, die seinen Freund noch gesund und voller Tatendrang zeigen, rühren ihn zutiefst. Er besucht Richner regelmässig. Nicht immer könne Beat ihm seinen Namen zuordnen, erzählt Studer. Doch erwähnen andere dem Erkankten gegenüber Peter Studer, so sagt Richner nicht ohne Stolz: «Das ist mein Nachfolger. Der macht das gut.» Sein Bauchgefühl – es ist ihm geblieben.
In seiner Ansprache vor dem König sagt Studer schliesslich: «Kantha Bopha ist kein Wunder. Es ist das Werk eines Mannes, der immer zuerst an die Patienten dachte – und es gewagt hat, fast alles anders zu machen als die anderen.» Im Saal sitzen auch der Schweizer Botschafter Ivo Sieber und Vertreterinnen der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Sie alle sind gekommen, um Richners Lebenswerk zu würdigen und um ein Zeichen zu setzen.
Richners «Spirit» lebt weiter
«And the Beat goes on», formuliert es eine Kantha-Bopha-Stiftungsrätin in Anlehnung an den gleichnamigen Dok-Film über Richner treffend: Der «Spirit» des Gründers wird übernommen, sein Hilfswerk in seinem Sinne weitergeführt – mit kostenlosen Behandlungen, modernster Medizin und ohne Korruption.
Dazu tragen alle ihren Teil bei. Das kambodschanische Ärzte- und Pflegepersonal mit einer Disziplin, welche die strengen Auflagen ihres geliebten Bosses sogar noch übertrifft. Der Stiftungsrat und Präsident René Schwarzenbach mit diplomatischem Geschick («wir arbeiten mit der kambodschanischen Regierung an einem Finanzierungsplan, der politische Wille ist gross, Kantha Bopha ist too big to fail»). Und die Spender! Sie stellen weiterhin sicher, dass neben Staatsbeiträgen und Einnahmen aus Touristen-Tickets mehr als die Hälfte des jährlichen 42-Millionen-Budgets zusammenkommt.
Studer bringt Richners Cello nach Hause
Nach dem Jubiläumsfest in Phnom Penh fliegt Dr. Studer zurück in die Schweiz. Auch hier wird der grosse Abwesende gefeiert: Am 25. November im Zürcher Grossmünster, da, wo Beatocello regelmässig Konzerte gab. Davor aber hat Dr. Studer noch eine Mission: Er nimmt Richners Cello mit nach Hause, auf einem separaten Sitz im Flieger, so wie es sein Freund auch immer gemacht hat. Der schüttelt zwar stirnrunzelnd den Kopf, wenn man ihm erzählt, dass er ein virtuoser Cellist gewesen sei. Doch irgendwie ist es tröstlich, zu wissen, dass «seine Frau», wie er das Instrument gern genannt hatte, bald bei ihm sein wird. Als stilles Symbol für eine Melodie, die weitergeht: And the Beat goes on.