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Beatocello ist tot

Der letzte Besuch bei Beat Richner in Kambodscha

In der Nacht auf Sonntag starb Beat Richner nach langer Krankheit. Während 27 Jahren hatte er sich aufopferungsvoll um seine Kinderspitäler in Kambodscha gekümmert. Im Herbst 2016 besuchte ihn die «Schweizer Illustrierte» ein letztes Mal vor Ort - kurz bevor er die Leitung seines Lebenswerkes aus gesundheitlichen Gründen abgeben musste.

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Morgenlicht dringt durch die Vorhänge der Intensivstation ICU 2 in Siem Reap, ein Gecko huscht unter das Gebälk, Ventilatoren kreisen wie Geier über den kranken Kindern. Im Bett 303 liegt die zweijährige Kanha Yan nach einem Asthmaanfall wie ein waidwundes Rehkitz. Sie röchelt und jammert – bis sie am Fussende einen Mann mit lichtem Kraushaar entdeckt. «Grossvater?», fragt sie verwundert. Dr. Beat Richner schmunzelt: «Wohl eher Urgrossvater.» Das Mädchen streichelt seine Hand. Dass der Doktor aus der Schweiz kommt und in Kambodscha fast so berühmt ist wie der König, interessiert sie nicht.

Das ist Richner noch so recht. «Es geht hier nicht um mich», sagt er und scannt mit seinem Blick den Raum: Hier auf der ICU 2 liegen seine grössten Sorgenkinder.

24 Jahre ist es her, als Beat Richner in Kambodscha sein erstes Kinderspital aufgebaut hat. Heute gibt es deren fünf, drei in Phnom Penh, zwei in Siem Reap. Und die funktionieren 24 Stunden am Tag wie ein geöltes Uhrwerk – längst auch ohne «the boss». Die 2447 kambodschanischen Angestellten arbeiten mit Schweizer Perfektion: stellen blitzschnell Diagnosen, dokumentieren akribisch Krankengeschichten, bringen täglich 60 Kinder auf die Welt – mit einer Ruhe, als würden sie in der Migros Gestelle einräumen. Und doch: Ohne Richner stünde die Zeit still, zumindest auf lange Sicht.

40 Millionen Franken kosten die Spitäler jährlich. 6 Millionen steuern Kambodscha und das eidgenössische Aussendepartement bei. Den Rest zahlen Spenderinnen und Spender, viele aus der Schweiz. Richner treibt das Geld höchstpersönlich ein. Jeden Samstag verwandelt er sich in den poetischen Cellisten Beatocello, der in den 80ern die Schweizer Kleinkunstbühnen eroberte. Touristen hören ihm zu, Menschen aus aller Welt, die hier im Norden Kambodschas die Tempelstadt Angkor besuchen und nach dem Benefizkonzert Geld spenden.

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Beat Richner als Beatocello auf der Bühne. 

Monika Flückiger

Mittag auf der Intensivstation, neben dem Eingang brodelt ein Reiskocher. Der sechsjährige Chesda Vutha liegt in ein Badetuch eingewickelt und fröstelt. Ihn plagen Fieber und Kopfschmerzen, immer wieder verliert er das Bewusstsein. Vater Pan hat tiefe Ringe unter den Augen. Letzte Nacht hat er seinen Sohn mit dem Taxi vom nördlichsten Zipfel Kambodschas nach Siem Reap gebracht. 250 000 kambodschanische Riel kostet die Fahrt, 50 Schweizer Franken – alles, was der 27-jährige Bauer besass. «Let’s do an MRI», sagt Chefarzt Khun Leang Chhun.

Seit sechs Jahren gibts in Siem Reap ein drei Millionen Franken teures Gerät für Computertomografie. Unter anderem deswegen wirft die Weltgesundheitsorganisation Richner Luxusmedizin vor und verweigert ihm die finanzielle Unterstützung. «Diese Haltung ist fahrlässig und ignorant!», ruft Richner aus. «Warum soll ich die medizinische Versorgung dem tiefen Lebensstandard des Landes anpassen? Jedes Leben ist doch gleich viel wert!» Er schnaubt und stopft das zu grosse Hemd in seine Hose. Beat Richnerist in den letzten Monaten schmaler geworden. Sein Lieblings-Italiener in Siem Reap ist zu, nun verzichtet er auf das Nachtessen und raucht noch mehr Zigarillos – «die beruhigen».

Dabei hätte Richner guten Grund, sich zu entspannen. Nachdem die kambodschanische Regierung seine Arbeit lange nicht offiziell anerkannt hatte, ernannte sie ihn dieses Jahr zum Berater des Gesundheitsministeriums. Jetzt darf er sich «His Excellency» nennen.

 

Beat Richner

Er war für die Menschen in Kambodscha wie ein Gott: Beat Richner. 

Monika Flueckiger

Nachmittags legt sich Stille über die ICU 2. Eine Infusion versorgt Chesda Vutha mit Antibiotika und Entzündungshemmern. Der Bub leidet an einer Hirnstammentzündung, das hat die Computertomografie gezeigt. «Sehr ernst», sagt Chefarzt Khun Leang Chhun, «solche Fälle haben wir leider oft.» Das ist wenig erstaunlich: Auf der Intensivstation liegen fast nur Kinder, die knapp am Tod vorbeigeschrammt sind. Denn die meisten Eltern bringen ihre Kleinen erst im letzten Moment ins Spital – die Anreise kostet zu viel.

So wars auch beim zehnjährigen Phy Hay. Bein und Fuss stecken in einem dicken Verband: ein Abszess, hervorgerufen durch eine Tuberkulose-Infektion. Hausmittel und Dorfarzt konnten nichts ausrichten, der Bub fiel ins Koma. Erst da brachte ihn die Mutter zu Richner. Phy schaut apathisch. Nur einmal lächelt er scheu: Als die Mama ihm ihr Smartphone zum Spielen hinstreckt. Eigentlich sind Smartphones im Spital verboten. «Don’t phone», ruft Beat Richner, wenn er Eltern beim Telefonieren erwischt, «sie stören den Betrieb.»

Der Chef ist streng – und stur. Das ist für seine Mitmenschen nicht immer einfach, den Spitälern hingegen kommts zugute. So sagt Richners langjähriger Weggefährte, Kinderarzt Peter Studer: «Dank Beats Sturheit sind seine Spitäler frei von Korruption.» Die Behandlung ist für alle gratis, niemand wird bevorzugt. Kein Wunder, gerät Richner in Rage, als er sich gegen Abend auf den Heimweg macht und vor dem Spital auf eine Australierin mit einem kranken kambodschanischen Kind trifft. Sie ignoriert die lange Warteschlange, stürmt direkt auf Richner zu, sagt mit Hundeblick: «Doktor, wir brauchen Hilfe!» Der entgegnet barsch: «Hinten anstehen!» Steigt in sein Auto und murmelt: «Diese Arroganz regt mich unglaublich auf.»

Beat Richner Siem Reap Beatocello krank Gesundheit

Ein Leben für die Menschen: Beat Richner in Kambodscha. 

Monika Flückiger

Hinter dem Spital geht die Sonne unter. Auf der ICU 2 schläft die elfjährige Sonita You wie eine Prinzessin; ihre Haare sind auf dem Kissen aufgefächert, der Atem geht sanft. Nur zwei Stunden zuvor ist sie fast erstickt. Eine Lungenentzündung. Mutter Kim wischt sich mit dem Hemdsärmel eine Erschöpfungsträne aus dem Gesicht. Für sie ist klar: «Beat Richner ist ein Gott.»

Für die einen ein Gott, für die anderen ein Grossvater – Dr. Beat Richner erfüllt viele Rollen. Dabei geht fast vergessen, dass er auch nur ein Mensch ist: ein Mann im Herbst seines Lebens. Einer, der sich fragt, wie sein Weg auch hätte verlaufen können.

1992 ging er davon aus, dass seine Spitäler nach fünf Jahren ohne ihn funktionieren werden. Mit einem Jeep wollte er dann von Kambodscha in die Schweiz zurückkehren. Er ist geblieben – wegen der Geldsorgen. Auch die sind geblieben. Aber es gibt Momente, in denen sie in den Hintergrund treten. Dann etwa, wenn Kinder wie Kanha Ya, Chesda Vutha, Phy Hay und Sonita You gesund ins Leben zurückkehren.

Von Michelle Schwarzenbach am 9. September 2018 - 13:04 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:05 Uhr