Sie ist die berühmteste Höhenbergsteigerin der Welt und kennt sich auch in den Schweizer Hochalpen bestens aus. Aber am Üetliberg, dem Zürcher Hausberg, war Gerlinde Kaltenbrunner, 47, noch nie. «Schön ist es hier», sagt sie. «So ruhig und so grün.» Die Ausnahmealpinistin kommt gerade von einem Motivationsvortrag, den sie in der Stadt gehalten hatte. Sie referierte vor Bank-Managern über Ängste, Rückschläge und Geduld. In diesen Themen ist die Oberösterreicherin Expertin: Als erste Frau bestieg sie alle 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff und ohne Hochträger.
Die Erste zu sein, sei ihr an den Achttausendern nie wichtig gewesen, sagt die ausgebildete Krankenschwester. «Es war einfach mein Lebenstraum, einmal auf den höchsten Bergen der Erde zu stehen, das Glücksgefühl und die Kraft der Natur zu spüren.»
«Cinderella Caterpillar»
Um sich diesen Lebenstraum zu erfüllen, investierte sie 18 Jahre ihres Lebens. Über 30 Expeditionen unternahm sie in den Himalaja und in den Karakorum, jede dauerte mehrere Monate. Sie trotzte Kälte, Anstrengung, Erschöpfung, Schmerzen, Gefahren – und scheiterte genauso oft wie sie Erfolg hatte.
173 Zentimeter gross und 55 Kilo leicht wirkt sie zierlich. Doch in ihr steckt eine Ausdauer, die ihresgleichen sucht. Gerlinde Kaltenbrunner spurte in der dünnen Luft nie weniger durch hüfttiefer Schnee als ihre männlichen Expeditionskollegen, ihr Rucksack wog dabei nicht selten 17 Kilogramm. «Ein solches Gewicht hängt in der dünnen Luft schon an», sagt sie lachend. «Aber wenn du einen Traum hast, kannst du ungeahnte Kräfte mobilisieren.»
Dieser Durchhaltewille brachte ihr den Übernamen «Cinderella Caterpillar» ein. Mit ihren grossen, dunkelbraunen Augen und dem sanften Wesen kam sie den Alpinisten am Berg vor wie Cinderella aus dem Märchen. Und wegen ihrer Stärke wie eine Planierraupe von Caterpillar.
Über ihr der Himmel, unter ihr die Gletscher
Wie schmal in den Bergen der Grat zwischen Triumph und Tod ist, erlebte sie unmittelbar. Auch selber überlebte sie mehrmals nur dank grossem Glück – und dank «meinem Bauchgefühl». Etwa 2007 am Dhaulagiri (8167 m): Um weniger mittragen zu müssen, hatten ihr spanische Bergsteiger angeboten, das Zelt zu teilen. Eine innere Stimme riet ihr jedoch, das eigene mitzunehmen. Sie biwakierten auf 7400 Metern, in der Nacht stürmte es. Am Morgen hatte Kaltenbrunner gerade einen Becher heisses Wasser getrunken, als sie in ihrem Zelt von einer Lawine mitgerissen wurde. Wie durch ein Wunder blieb sie unversehrt und konnte sich befreien. Für zwei der Spanier, die ihr Zelt direkt neben ihr aufgeschlagen hatten, gab es keine Rettung, sie wurden von den Schneemassen erdrückt.
Den grössten Effort verlangte der K2 (8611 m) von ihr. Er gilt als schwierigster Achttausender und ist nach dem Mount Everest der zweithöchste Gipfel der Erde. Bei sechs Anläufen scheiterte sie. Erst im siebten Anlauf, am 23. August 2011 um 18.18 Uhr Ortszeit, erreichte sie überwältigt von Emotionen und mit Tränen in den Augen seinen höchsten Punkt – ihren 14. und letzten Achttausender. «Oben hat alles geleuchtet.» Über ihr der Himmel, unter ihr die Gletscher. Sie wusste, «jetzt noch gut absteigen», dann ist ihr Lebenstraum wahr.
Es sind aber nicht nur die alpinistischen Erfolge, die Kaltenbrunner so aussergewöhnlich machen. Als eine der ganz wenigen ihrer Gilde weltweit brachte sie nach Erreichen ihres Lebenstraums den Mut auf, einen Strich unter das extreme Profibergsteigen zu ziehen. Nicht weiterzumachen, bis sie am Berg zu Tode kommt. Obschon sie keinen Plan B hatte und noch heute genügend fit wäre, um weiterhin alpine Geschichte zu schreiben. «Doch als ich meine Expeditions-Tagebücher nochmals durchgelesen hatte, stand für mich die Entscheidung fest. Ich musste mir eingestehen, dass ich schon genügend oft Glück und Beistand hatte, um das Risiko an den ganz hohen Bergen erneut zu wagen.»
Das Restrisiko klettert immer mit
2012 stieg Kaltenbrunner noch auf den Nuptse (7861 m). Dies war ihr letzter Gipfel in solch extremer Höhe – und der Berg, an dem Ueli Steck Ende April 2017 verunglückte. «Solche Verluste gehen mir schon sehr nahe», sagt Kaltenbrunner. «Aber wir Alpinisten wissen, dass das Restrisiko immer mitklettert. Uelis Tod ist ein Mahnmal für alle.»
Sich vom extremen Bergsteigen zu verabschieden, sei ein Prozess gewesen. «Nachdem ich alle 14 Achttausender hatte, waren die Erwartungen an mich hoch», sagt sie. «Es fiel mir schwer, öffentlich auszusprechen, dass ich nicht wie bisher weitermache.» Auch für sie selber war es nicht einfach, sich neu zu orientieren. Selbst ihre Ehe, die einst so romantisch begann, zerbrach. 2007 hatte sie ihren damaligen Freund, den deutschen Höhenbergsteiger Ralf Dujmovits, geheiratet. Er hatte ihr beim Abstieg vom Lhotse (8516 m) im Biwak auf 7100 Metern einen Antrag gemacht – bei minus 17 Grad. Die zwei galten als das prominenteste und erfolgreichste Bergsteigerehepaar der Welt. 2015 liessen sie sich scheiden.
Von Amerika über China bis Zürich
Als Erfolgsalpinistin findet Gerlinde Kaltenbrunner immer einen Weg bergauf. Ihren Horizont erweitert sie derzeit mit einer Ausbildung für «Existenzielles Coaching». Das Erlernte lässt sie in ihre Vorträge einfliessen, für die sie in alle Herrenländer gebucht wird – von Amerika über China bis nach Zürich. Da spricht sie auch darüber, warum sie sich seit neun Jahren rein pflanzlich ernährt, wie sie dadurch an den Achttausendern an Kraft gewann – und sich dennoch nicht offiziell als Veganerin bezeichnen darf. Denn noch gibt es keine vegane Bergsteigerausrüstung, keine tauglichen Schuhe ohne Leder oder Schlafsäcke ohne Daune.
Auch ein neues Liebesglück hat Gerlinde Kaltenbrunner gefunden. Vor einem Jahr lernte sie auf einer Bergwanderung in Österreich Manfred, 53, kennen. Er ist Yogalehrer und Bioresonanz-Therapeut. Bald darauf reisten sie gemeinsam nach Tadschikistan und kletterten dort auf einen Fünftausender.
«Es war sein bisher höchster Berg. Manfred ist erst durch mich zum Bergsteigen gekommen. Aber jetzt hat er es voll für sich entdeckt», sagt sie, lächelt verliebt, verabschiedet sich von uns, steigt in ihren schwarzen Renault-SUV. Und fährt vom Fusse des Üetlibergs an den Attersee im Salzkammergut, wo sie neu mit Manfred lebt.