Freitagmorgen, Talstation Gütsch Express in Andermatt UR. Azurblauer Himmel und honiggoldene Sonnenstrahlen locken Skifahrer in Scharen. Bei den Gondeln Gedränge. Mittendrin: Bernhard Russi, 70. An der Seite der Ski-Legende: Maximilien Thilo, 28, aus der Nähe von Lausanne, den alle nur «Max» rufen, Irma Roesch, 65, gebürtige Luzernerin, die seit 26 Jahren im Tessin lebt, sowie Virgil Desax, 31, aus Abtwil SG. Eine Skigruppe unter vielen.
Auffällig sind die Skijacken: knallgelb, mit Logo auf dem Rücken. Es zeigt ein symbolisches schwarzes Auge, das von einem weissen Stock gekreuzt wird.
Max, Irma und Virgil sind blind. Max von Geburt an, Irma verlor vor zweieinhalb Jahren ihr Augenlicht, Virgil sieht seit zehn Jahren nichts mehr. So unterschiedlich ihr Schicksal, eins eint die drei: ihre Liebe zum Skifahren. Sie haben einen Wettbewerb von Visilab gewonnen.
Der Schweizer Optiker unterstützt seit Januar 2018 den Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen, kurz SZBLIND. Zusammen mit Visilab und dessen Botschafter Bernhard Russi setzt sich der Verein dafür ein, dass Menschen mit Sehbehinderung den Alltag möglichst selbstständig gestalten können. Für Max, Irma und Virgil bedeutet das, heute mit Bernhard Russi die Pisten hinabzujagen.
Spass gehört mit auf die Piste
Wie ist das möglich? Die Blinden sind jeweils mit einem Guide unterwegs. Max hat Stefan Probst, 61, an seiner Seite. Irma ist mit Aline Dünner, 30, angereist, und Virgil hält sich heute eng an Stéphanie Léchot, 32.
Die Vorfreude auf die Abfahrt macht sich schon in der Gondel bemerkbar. Es wird gescherzt, gelacht, Sprüche werden geklopft. Oben angekommen, rein in die Bindung, und los kanns gehen. Doch mitten auf der roten Piste neben dem Gütsch-Flyer-Sessellift stehen ein paar Skifahrer herum und quatschen miteinander.
Aline, die als Guide mit Irma unterwegs ist, ruft freundlich, aber bestimmt: «Könntet ihr bitte die Piste frei machen?» – «Warum? Fahrt doch vorbei», kommt prompt die Antwort. «Ich bin mit Blinden unterwegs», ruft Aline und verdreht ein wenig genervt die Augen. «Ach so!» Die Skifahrer machen die Piste frei, und zu Irma gewandt gibt ihr Aline das Kommando loszufahren. Sie selber fährt dicht hinter der Seniorin. «Reeeeechts, liiinks. Rechts, liiiiiinks, rechts», ruft Aline Irma zu und gibt ihr so zu verstehen, ob die Blinde weite oder kurze Schwünge fahren kann. Erstaunte Blicke verfolgen das Duo.
Bernhard Russi ist extrem nervös. Er hat sich gerade von Stefan Probst erklären lassen, wie er Max als Guide sicher auf der Piste lotsen kann. Probst liess sich 2006 nach einem Zeitungsartikel über blinde Skifahrer beim Westschweizer Verband sehbehinderter Skifahrer (GRSA) zum Guide ausbilden. Seither wedelt er pro Saison an bis zu 20 Tagen mit Sehbehinderten über Schweizer Pisten. «Da übernimmt man ja eine extreme Verantwortung», stellt Russi fest. Denn er muss nicht nur seinen Schützling im Auge haben, sondern auch das Geschehen links und rechts sowie hinter sich.
Nur etwas müsste Russi nicht im Auge haben: Max’ Ski. Doch genau das ist die Schwierigkeit. «Ich schaue immer auf die Ski von Max, damit er nicht verkantet.» Ausserdem versucht die Ski-Legende den 28-Jährigen um jedes Schneehäufchen herumzuführen.
Dabei ist das gar nicht nötig. Denn Max spürt den Schnee und die Bodenbeschaffenheit unter seinen Ski sehr genau. Mit Viereinhalb ist er von seinen Eltern erstmals auf Ski gestellt worden. Die ganze Familie, inklusive seiner zwei Schwestern, sind begeisterte und zudem extrem gute Skifahrer. Das bemerkt auch Russi sehr schnell. «In dem Moment, als Max sich in den Steilhang gestürzt hat, sind bei mir die Tränen gelaufen», sagt er beim Mittagessen im Restaurant Rütihütte.
Bernhard Russi hat alle sicher die Piste runtergebracht. Er ist froh, dass die Guides wieder übernehmen, denn, so gibt er zu: «Ich bin nach diesen drei Abfahrten nudelfertig.»