Der 2:1-Sieg gegen Orlando City ist seit einer guten Stunde unter Dach und Fach. Blerim Dzemaili lenkt im Dunkeln seinen Audi-SUV aus dem Parkplatz des Stade Saputo in Richtung Ausfahrt. Da hält neben ihm eine Limousine, die Scheibe fährt hinunter.
«Ciao, Blerim! Fahr nicht den üblichen Weg, die Schnellstrasse ist total verstopft», ruft ihm ein elegant gekleideter Herr mit Bart zu und gibt Tipps, wie er am schnellsten heimkommt. Es ist Klubboss Joey Saputo (52). Dem Spross von Kanadas viertreichster Familie gehört hier alles: der Verein Montreal Impact, das nach seiner Familie benannte Stadion auf dem Olympiagelände, das topmoderne Trainingszentrum Nutrilait am Sankt-Lorenz-Strom.
Dankbar ruft Dzemaili «grazie!» und gibt Gas. Ehefrau Erjona lächelt und greift vom Beifahrersitz aus die Hand ihres Mannes: «Es ist einfach wie eine Familie hier.»
«Ich erlebe gern Neues»
Saputo ist das Herz dieser Familie. «Er ist eine der normalsten reichen Personen, die ich kenne», staunt Blerim. Als er Anfang Mai von Bologna nach Montreal kam, begleitete ihn der Klubboss sogar stundenlang auf der Wohnungssuche. «Einmal schauten wir uns ein Penthouse im 44. Stock an, doch der Lift endete in der 36. Etage. Saputo stieg vor mir die Treppen hoch und meinte: «Komm, das musst du gesehen haben», erzählt der Mittelfeldspieler begeistert.
Saputo war es auch, der Dzemaili nach Kanada gelotst hat. Nach der EM 2016 in Frankreich rief dessen rechte Hand, Nick de Santis, auf Dzemailis Handy an. Ob er sich vorstellen könne, in die Major League Soccer (MLS) zu kommen. Dzemaili gefiel die Idee sofort: «Ich bin einer, der gern neue Dinge erlebt. Und die Lebensqualität in Montreal ist sehr hoch.»
Famile Dzemaili ist viel unterwegs
Der reisefreudige Mittelfeldspieler nutzt freie Tage nach den Spielen jeweils, um mit seiner Erjona, 29, und Sohn Luan, 2, die Neue Welt zu entdecken. So hat das eingeschworene Trio bereits New York und Toronto bereist, beide keine Flugstunde von Montreal entfernt. Einen Nationalpark und die Niagarafälle haben sie sich ebenfalls angesehen – «das wünschte sich Erjona schon immer», erzählt Dzemaili.
Doch auch in Montreal war die Familie schon viel unterwegs in den letzten drei Monaten: Sie waren im Zoo und im Botanischen Garten, in der Kathedrale, auf dem Mont Royal (nach dem die Stadt benannt ist), am Alten Hafen – und natürlich in den vielen Einkaufsstrassen mit Restaurants und Cafés.
«Ich musste oft Monate auf das Geld warten»
Dass es seinen Liebsten gut geht, ist dem Familienmenschen enorm wichtig. «Zudem lernt Luan hier auch Englisch und Französisch.» Und: Das Gehalt kommt pünktlich. «In Italien musste ich oft drei Monate auf das Geld warten, das ist dort überall so.»
Das Gehalt bei Montreal Impact war verlockend: Als einer von drei «Designated Players» im Kader verdient Dzemaili in Kanada ein Vielfaches (man spricht von 3 Millionen Dollar netto) seiner Mitspieler. Weil in der MLS die Summe der Gehälter für jedes Team limitiert ist, konnte ihn Montreal jedoch im Sommer noch nicht verpflichten. Also schlug der Klub vor, Dzemaili vorerst eine Saison beim FC Bologna in der Serie A unterzubringen, der ebenfalls Saputo gehört.
«Er war eine grosse Persönlichkeit»
Der Mittelfeldspieler schlug in Italien ein wie ein Blitz, war in der Form seines Lebens. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse. Im April verlässt Weltstar Didier Drogba, Afrikas zweifacher Fussballer des Jahres, den Klub vorzeitig Richtung Arizona. Impact beordert Dzemaili im Mai vorzeitig nach Kanada, wo er – vorerst leihweise – in Drogbas Fussstapfen treten soll.
Dzemaili lächelt: «Drogba hat ja schon allein seines Namens wegen das Stadion gefüllt. Er war eine grosse Persönlichkeit.» Doch Drogbas Abgang war nicht wirklich rühmlich: Gesundheitliche Probleme und disziplinarische Unzulänglichkeiten führten zur vorzeitigen Trennung.
Der Druck ist weniger hoch
Den Schweizer verwundert die Geschichte seines Vorgängers nicht: «Viele unterschätzen die Liga, und dann haben sie hier Mühe. Wenn die Einstellung nicht stimmt, kannst du dir hier den Ruf noch kaputtmachen.» Beste Beispiele dafür waren die England-Stars Steven Gerrard oder Frank Lampard, deren Ausflug in die Neue Welt nach einer tollen Karriere in Europa wenig ruhmreich endete.
Dzemaili hingegen nimmt sein Engagement in der MLS keineswegs auf die leichte Schulter, auch wenn hier alles etwas lockerer ist. Noch am Abend vor einem Spiel kann er unbeschwert mit einer befreundeten Familie aus Bologna griechisch essen gehen. Zum Heimspiel besammelt sich das Team anderthalb Stunden vor Anpfiff im Stadion. Interviews zum Match geben die Spieler in der Kabine. «Der Druck ist einfach kleiner, weil es keinen Absteiger gibt Ende Saison», glaubt Blerim Dzemaili.
Man schenkt sich nichts
Doch auf dem Platz geht es durchaus hart zur Sache, «die Liga ist eher physisch geprägt», weiss Dzemaili. Sein Bologna-Trainer Roberto Donadoni hatte Dzemaili gewarnt. Er gehörte 1996 bei den New York Metro Stars zu den ersten europäischen Topstars, die in die 1993 gegründete Franchise-Liga nach Übersee wechselten. An diesem August-Abend spielt Montreal gegen Orlando, einen direkten Konkurrenten um den Einzug in die Play-offs im Herbst. Man schenkt sich nichts.
Angepeitscht von 20 801 Fans, gelingt Impact im Stade Saputo die Wende vom 0:1 zum 2:1. Die Schlüsselfiguren sind die «Designated Players»: Der argentinische Topskorer Ignacio «Nacho» Piatti schiesst den Ausgleich per Penalty, das Siegtor fällt in der 84. Minute nach einem perfekten Zuspiel Dzemailis.
Dank Dzemaili geht es aufwärts
Nach jedem Treffer für Montreal wird hinter dem einen Tor eine riesige Glocke geläutet. Nach Toren des Gästeteams bleibt es im Stadion jedoch fast schon gespenstisch ruhig: Gegnerische Fans reisen wegen der grossen Entfernungen zwischen den einzelnen MLS-Spielorten kaum an die Auswärtsspiele mit. Zum Mann des Spiels wählen die Fans «Nacho» Piatti. Einen Tag später wird die Major League Soccer ihr «Team der Woche» bekannt geben: mit Blerim Dzemaili als einzigem Impact-Spieler!
Seit Dzemailis Ankunft geht es auch in der Meisterschaft aufwärts. Mitte August wurde mit dem kanadischen Internationalen Samuel Piette ein weiterer Leistungsträger aus Spanien zurück in die Heimat gelotst.
Ein Leader, den alle mögen
Bei dessen Debüt brilliert Dzemaili gegen Philadelphia (3:0) gar mit zwei Treffern, für den dritten holt er einen Penalty heraus. Fast in jedem Spiel gelingt dem Schweizer (Übername: Bomber) beinahe ein Skorerpunkt – ein Assist oder ein Goal.
«Wir sind froh, dass wir Blerim haben. Ein Leader auf und neben dem Platz, den alle mögen», lobt Trainer Mauro Biello. Dabei kommen dem aufgeschlossenen Zürcher sicher seine Sprachkenntnisse entgegen: Er spricht neben Deutsch und Albanisch fliessend Französisch, Englisch und etwas Spanisch.
«Wir werden noch mehr als drei Jahre hier leben»
Damit passt Dzemaili perfekt nach Montreal, diesen Schmelztiegel der Kulturen mit über 100 Nationalitäten. Vergessen der schwere Abschied aus Bologna, wo sich auch seine Familie sehr wohl gefühlt hatte. «Es tat weh, wegzugehen», gibt Dzemaili zu, «aber wer konnte ahnen, dass ich dort so eine tolle Saison habe?» In Montreal hat er sich jedoch bereits ein beachtliches Umfeld geschaffen.
Kontakte zu knüpfen, fiel der Familie in Kanada leichter als etwa zuvor in Istanbul oder Neapel: «Wir werden noch mehr als drei Jahre hier leben, deshalb sind wir wahrscheinlich offener», so Dzemaili, der nur seine Familie aus der Schweiz vermisst. Noch konnten ihn seine Eltern und sein Bruder nicht besuchen. Aber er ist ja regelmässig in der Schweiz, um mit der Nationalmannschaft WM-Qualifikationsspiele zu bestreiten.
Dzemaili ist seit der Euro 2016 Stammspieler, Sorgen um seinen Platz macht er sich nicht: «Für Natitrainer Petkovic ist es das Wichtigste, dass seine Spieler regelmässig zum Einsatz kommen, und das ist bei mir ja der Fall.»
Ein Haus in Lugano
Natürlich ist Dzemaili bewusst, dass seine Karriere mit 31 nicht mehr unendlich lang dauert. In dreieinhalb Jahren, Ende 2020, läuft sein Vertrag bei Impact aus. Dann ist Blerim 34 Jahre alt, Luan wird eingeschult.
Wahrscheinlich kehrt die Familie dann in die Heimat zurück, wo Dzemaili ein Haus in Lugano besitzt: «In der Schweiz sind Lebensqualität und Schulbildung einfach am besten. Und das Tessin ist perfekt gelegen zwischen Zürich und Italien.» Erjona, die als Neunjährige mit ihren Eltern aus Albanien nach Italien auswanderte, ist in der Nähe des Gardasees aufgewachsen.
Keine schönen Erinnerungen an Istanbul
Für ihren Blerim hat Erjona noch einmal viel aufgegeben. 2014 haben sie sich kennengelernt, als er bei Napoli spielte. Sie zog mit ihm nach Istanbul – keine schöne Erinnerung: «Da war Blerim sehr oft unterwegs, weil Galatasaray in der Meisterschaft, im Cup und in der Champions League spielte. Manchmal sah ich ihn nur einen Tag pro Woche und sass die übrige Zeit meistens mit meinen zwei Hunden allein in der Wohnung.»
Untätig zu Hause sitzen, das kommt für die hübsche Albanerin eigentlich nicht infrage. Sie ist gefragtes Model, aktive Bloggerin (Twitter und Instagram) und hat vor einiger Zeit die Marke Juice Wear gegründet, mit der sie eine Bademodelinie auf den Markt gebracht hat.
Keine weiteren Kinder vor der WM
Auch in Kanada würde Erjona gern arbeiten, «doch dieses Jahr habe ich nur ein Touristenvisum und bekomme keinen Job», bedauert sie. Mit Sohn Luan folgte sie Blerim im Juni nach Kanada. Der Zweijährige besucht seit kurzem jeden Morgen eine englischsprachige Kinderkrippe.
«Luan braucht unbedingt soziale Kontakte zu anderen Kindern. Aber es ist nicht einfach, ihn abzugeben», beteuern die Eltern. «Denn mit ihm ist alles schöner. Er war noch nie eine Nacht von uns getrennt.» Ein Geschwisterchen ist noch nicht geplant – «nicht vor der WM», präzisiert Blerim.
WM als letztes grosses Ziel?
Die Weltmeisterschaft im kommenden Jahr in Russland – für Dzemaili das nächste grosse Ziel. Und möglicherweise auch sein letztes mit dem Nationalteam. Die Reisen, der Jetlag – und er wird nicht jünger.
Doch Dzemaili wiegelt ab: «Mein Fokus geht momentan nur bis zur WM, danach werde ich mit dem Trainer das Gespräch suchen, um seine Meinung zu hören.» Doch schliesslich möchte der Schweizer mazedonischer Herkunft und albanischer Abstammung gehen, wenn es am schönsten ist: «So wie ich mich aus der Serie A verabschiedet habe.» Auch wenn es wehtat. Aber es hat sich gelohnt.