Durch das Fenster des Cafés Marlette blickt Bettina Oberli, 46, auf das Treiben der Rue des Martyrs. «Die Pariser sind immer gestresst», sagt die Bernerin. «Aber das passt mir noch.» Der Kellner serviert ihr, wie so oft in den vergangenen Wochen, einen Kaffee. «Ihn kenne ich gut», sagt sie, «er ist der langsamste Mensch der Stadt!» Ein halbes Jahr hat sich die Filmemacherin hauptsächlich im 9. Arrondissement von Paris bewegt, um ihr neues Werk «Le vent tourne», eine schweiz-französische Koproduktion, fertigzustellen. Sie greift nach der Tasse.
Die Faszination fürs französische Leben hat Bettina Oberli schon früh gepackt. In Meiringen BE aufgewachsen, wählt sie freiwillig Französisch als Fremdsprache. «Und später habe ich einen Franzosen geheiratet. Stéphane ist sogar in Paris geboren.» Mit Stéphane Kuthy, 50, lebt sie in Zürich und hat die Söhne Léon, 16, und Aurel, 12. Bei ihren Filmen (u. a. «Tannöd», «Die Herbstzeitlosen») arbeiten die Regisseurin und der Kameramann oft zusammen.
Der Wind bläst von Norden her durch die Strasse. «Dieser Blumenladen ist neu.» Bettina Oberli bleibt stehen, betrachtet die Pflanzen, dann gehts im Eiltempo weiter zum Schnittplatz. In Paris bewegt sie sich wenn möglich zu Fuss. «Es ist die beste Stadt dafür. Es gibt immer etwas zu sehen.» Gekonnt weicht sie den Passanten auf den schmalen Trottoirs aus, geht zackig und zielorientiert ihren Arbeitsweg. «Ein Privatleben habe ich hier nicht», sagt sie. Normalerweise hält sie sich mit Schwimmen fit, aber in der Metropole fehlt in der Nähe ein Hallenbad. Dafür ging sie öfter ins Kino. «Vier Euro kostet das Ticket. Anders als in der Schweiz gehört Kultur hier zum alltäglichen Leben. Gleichzeitig sind die Pariser in ihrem Kulturverständnis etwas elitär.»
Die Pariser sind in ihrem Kulturverständnis etwas elitär
Der Wind hat gedreht und bläst jetzt seitwärts. «Le vent tourne» hat Bettina Oberli von Beginn weg auf Französisch realisiert. «Mich Situationen auszusetzen, in denen ich auch scheitern könnte, treibt mich an», begründet sie. «Ich will aus meiner Komfortzone raus, denn die Welt ist gross.» Mehrstündige Drehbuchbesprechungen en français, Dreharbeiten mit den französischen Hauptdarstellern Mélanie Thierry, (37, «La Douleur») und Pierre Deladonchamps, 40, sowie die Postproduktion in Paris. «Die Haltung der Franzosen ist klar: Entweder sprichst du ihre Sprache fliessend, oder du lässt es bleiben. Niemandem käme in den Sinn, sich mir anzupassen», sagt sie. «Es war nicht einfach. Oft habe ich mich gefragt: Bin ich denn des Wahnsinns, mich dem auszusetzen?»
Zeit, «Au revoir» zu sagen
Bettina Oberli klingelt. Cutterin Pauline Gaillard, 45, schaut aus dem Fenster im vierten Stock und öffnet per Knopfdruck die Tür. Schwere Vorhänge bedecken die grossen Fenster. Während 18 Wochen hat Oberli hier von 9 bis 18.30 Uhr mit Gaillard im Dunkeln vor den Bildschirmen gesessen, den Film auf zackige 86 Minuten geschnitten und «irgendwann angefangen, auf Französisch zu denken». Heute ist es Zeit, «Au revoir» zu sagen. Pauline verabschiedet Oberli mit Bisou: «Adieu, mon petite cocon» – «Pauline sagt immer etwas anderes, aber ich gehe stets davon aus, dass es nett gemeint ist», so Oberli lachend.
Ein Kurzbesuch bei Filmmusiker Arnaud Rebotini, 48, steht an. Der «César»-Gewinner komponiert in einem fünf Quadratmeter grossen Raum im Keller die Musik zum Film – in nur drei Wochen. «Ich liebe diesen Typen. Er ist einer der sanftesten Menschen, die ich kenne», sagt sie. So hat Rebotini die Botschaft von Oberlis Film sofort verstanden. «Es geht um eine Frau, die entwurzelt ist und Fragilität in ihrem Leben und in der Natur erlebt. Alles ist zerbrechlich.» Rebotinis moderne, metallische Kälte (elektro) mit warmen, fragilen Streichern (analog) passen perfekt dazu, findet sie.
Tschüss Spaghetti
«Tschüss Spaghetti», beendet Bettina Oberli im TGV das Telefonat mit ihrem jüngeren Sohn. Innerhalb ihrer Familie benenne man sich gern nach Essen, «Melone» oder «Ciao Vanilla» seien sehr beliebt. «Meine Söhne sind übrigens recht nett», sagt sie lachend. Jetzt, da der Film fast fertig ist, hat sie wieder mehr Zeit für ihre Familie. «In Zürich fängt mein Leben wieder an.» Für längere Zeit lässt Bettina Oberli Paris und dessen Hektik hinter sich.
Langsam verabschiedet sich die Sonne. «Jetzt müsst ihr rausschauen. Die Windmühlen kommen!» Ein letztes Foto durchs Zugfenster. Adieu, Paris.
«Le vent tourne» startet am 31. Januar in den Deutschschweizer Kinos.