Da stand er, Bruno Ganz, in der Wohnung meiner Mutter. Er stand da, am Eingang zur Küche, den ganzen Abend, als man 1977 die triumphale Rückkehr der Gruppe von Regisseur Peter Stein feierte, die kurz zuvor aus Zürich vertrieben wurde: Er stand da, im Türrahmen, den ganzen Abend lang, an der Schwelle zwischen dem Fest und dem Herd, dem Herd seiner Heimat, meiner Heimat.
Im Bett noch, mit der Tür, die einen Spalt geöffnet war, brandeten die Stimmen der Schauspieler in meine Träume, und ich fühlte mich, wie nie zuvor und nie danach, geborgen im Gemeinsamen eines Willens zur Kunst.
Dieses Bild prägte sich tief in mich ein, dieses randständige Warten. Ohne es zu wissen, hat mich dieser Standpunkt, diese Haltung von Bruno Ganz geprägt. Er wollte selbst nie im Zentrum stehen, sondern sich stets in den Dienst der Sache, der Arbeit an einer Rolle, an einem Stück stellen.
Dafür bekam er 1996 den Iffland-Ring, die höchste Auszeichnung für einen Bühnenschauspieler, dafür lobte ihn Kate Winslet in ihrer Dankesrede an einer Oscar-Verleihung.
Lob von Max Frisch
Wie damals in Zürich. 1969. Bruno Ganz hatte in der Rolle des Prinzen von Homburg mit seiner traumwandlerischen Kraft die deutsche Bühne erobert. Nun kam er mit Peter Stein ans Zürcher Schauspielhaus.
Es waren politische Zeiten. Man kämpfte gegen den Vietnamkrieg. Das war nicht allen recht. Und obwohl sie damals, 1969, aus politischen Gründen aus Zürich vertrieben und von der Fremdenpolizei beschattet wurden, erinnerte er sich gern an jene Zeit: «Max Frisch kam in die Garderobe. Entzückt. Ganz aufgeregt. Voll Lob, er wusste gar nicht, wie er das streuen soll. Es war sehr bewegend.» Dieses Lob wischte Bruno aber sogleich wieder weg: «Wir waren nicht so gut wie später in Berlin an der Schaubühne, aber wir waren auch nicht so schlecht.»
Das verriet er mir, als er mich für ein Interview zu seinem 70. Geburtstag in meiner kleinen Zürcher Wohnung besuchte. Er sass da, unscheinbar fast, vor dem Kachelofen, in Turnschuhen, die immer auf dem Sprung schienen, um für seine nächste Filmrolle zu üben.
Bruno Ganz: Sein Leben und seine Rolle in Bildern
Er sollte über sein Leben sprechen. Doch er wollte lieber über die Bücher reden, die ihn zuletzt beim Lesen so geprägt hatten und über die wir gerade im «Literaturclub» gesprochen hatten: David Foster Wallace’ Roman «Der Unendliche Spass» hatte ihn ganz im Griff.
Eine Geschichte über den Konsumismus unserer Jetzt-Zeit, bei der die Betrachter eines Filmes vor lauter Faszination über den Sog der spektakulären Handlung nichts mehr essen, nichts mehr trinken konnten und vor dem TV starben.
Sucht und Entzug
Es ist aber auch ein Buch über Sucht und Entzug. Was Ganz selbst erlebt hatte. Doch er wollte nicht mit mir über sein Leben reden, darüber, wie er als Kind eines Schweizer Fabrikarbeiters und einer Italienerin im Aussenbezirk Zürich Seebach einen Film mit schnauzbärtigen Männern sah, deren männliche Kraft ihn so tief zeichnete.
Viel lieber wollte Bruno Ganz das Rätsel von Wallace’ Roman entschlüsseln, sich einmal mehr ganz in den Dienst der Kunst stellen und selbst unscheinbar an der Schwelle verharren, als wäre sein Geburtstag eine Nebensache.
«Als Bub aus Seebach war die Welt des Films unerreichbar weit weg, aber ans Theater, da gab es einen Weg.» Bruno Ganz nahm Sprechunterricht bei Ellen Widmann, doch dann kam Klaus Kinski nach Zürich und las auf wilde Weise «Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund».
Ganz erinnert sich: «In seiner provokativen Art hat er die Leute im Saal gegen sich aufgebracht. Und als Erste protestierte Ellen Widmann, die das Erbe verwaltete, wie ein Schauspieler korrekt sprechen sollte. Kinski bediente zwar noch das alte Vibrato, aber er war einfach unverschämt. Ha!»
Ganz nebenbei berichtete er, wie er zunächst bei Jelmoli Bücher verkauft, um sich einen Abendkurs zu leisten, aber «ich hab immer alles nur äs bizzeli gemacht». Und dann wollte er es doch wissen und ging an die Schauspielschule in Göttingen, wobei ihm seine Mutter Fresspaketli schickte: «Ein Päckli von der Mamma mit Salami und so, Les Caprices des Dieux, das gab es in Deutschland nicht, sie hat es im Migros oder so gekauft und geschickt.» Kleine Gaben auf dem Weg zum Welterfolg.
Heu, Heimat, Heidi
Das Urbild, das ihn ein Leben lang begleitete, schilderte er, zaghaft, wie folgt: «Einmal lag ich als Kind auf einem Heuwagen. Es war schon etwas spät, wie wir das Heu holten, und wir sind durch die Dämmerung gefahren, und es hat auf dem Heuwagen so geduftet – da war ich so glücklich und dachte, dieses Glück muss jetzt die Welt erfahren und mein Gesicht sehen. So wurde ich Schauspieler.»
Für dieses Gesicht, im Heu der Heimat schnüffelnd, haben wir ihn geliebt. Zuletzt im Film «Heidi». Doch beim Wechsel vom Theater zum Film musste er dieses Gesicht neu erfinden. Und so stand er 1977 in Wim Wenders Film «Der amerikanische Freund» an der Seite des US-Stars Dennis Hopper aus «Easy Rider» vor der Kamera.
Ziemlich hilflos: «Man sagte mir nur: Mach weniger als im Theater!» Das half nicht viel, aber was dann half, war die Kamera, die intime Beziehung zu ihr: «Die Erfahrung, wie sehr man sich auf sie verlassen kann. Ich muss nichts mehr vorführen wie auf der Bühne. Es reicht, wenn es in mir passiert.»
Nach seinen triumphalen Auftritten in Filmen kehrte er noch einmal auf die Bühne zurück, unter der Regie von Peter Stein sollte er die grösste Rolle des deutschen Theaters spielen: den Faust von Goethe.
Eine gewaltige Produktion, die Aufführung dauerte jeweils zwei Tage lang. Daran wäre er fast zerbrochen. Fast wäre er damals schon gestorben. Doch er hörte mit dem Trinken auf und kehrte zurück, spielte den Faust, aber er blieb unzufrieden mit sich. Eine Eigenschaft, die keiner so schätzen konnte wie Peter Stein, sein Regisseur.
Bei einem Gespräch mit Peter Stein vor einem Jahr im Schauspielhaus Zürich liessen wir als Überraschung eine Passage abspielen mit Bruno Ganz. Stein hörte zu. Still und konzentriert. Und meinte nur: «Ja, wenn man zuhörte, wie Bruno Ganz diese Sätze gestaltete, dann muss man einräumen, das konnte keiner so wie er: sich mit seiner Stimme, seinem Kiefer, seinen Zähnen so sehr in den Dienst eines Textes zu stellen, um ihn in all seiner Abgründigkeit auszuloten.»
Die letzte Begegnung
Und da sah ich ihn wieder, nach der Chemotherapie an einem Suppenstand, von hinten wirkte er wie ein armer russischer Bauer aus einem Stück von Tschechow, der gierig die Suppe schlürft, um einmal noch ins Leben zurückzufinden.
Alt sah er aus, gebrochen, doch drei Tage später wirkte er wieder ganz dem Leben zugetan. Er besuchte eine Ausstellung eines japanischen Künstlers im Museum Rietberg, während ich mit seinem Sohn Daniel spazieren ging am See.
Ich sprach mit Daniel über dessen Zeit im Tibet, über die Musik und sein Gitarrenspiel, bei dem er, wie er es danach in unserer Wohnung so scheu und so tief intensiv zeigte, aufgehen kann wie sein Vater in seinen Rollen.
Danach, über die Chemotherapie sprechend, lenkte Bruno Ganz von seinem Leid sogleich ab, um über das einzig Wesentliche zu sprechen, die Kraft der Kunst.
Er schickte uns in die Ausstellung, wo man auf über fünf Metern das Bild des japanischen Künstlers Rosetsu sah, das nur einen Zweig zeigte, der sich über die Leere des Bildes erstreckt, ohne jeden Hintergrund, an einer Ecke ein einsamer Vogel. Stille. Leere und Fülle zugleich. Das Bild einer Schwelle zwischen dem Leben und dem Nichts.
Der Perfektionist
Bruno Ganz berichtete über die Synchronisation seines letzten Films mit Tarantino, wie er tagelang Mühe mit seinen Stimmbändern hatte, um dann doch, im entscheidenden Moment, die Kraft seiner Technik zu finden.
Er sinnierte über das Vokalische des Italienischen, der Sprache seiner Mutter, nah dem Wellenschlag ihrer Zunge und dem seines Wohnorts Venedig; oder über das Unerreichbare des Shakespeare-Englisch, des höchsten Klangs für ihn. «Wunderbar.» Seinem eigenen Klang aber, so berühmt er geworden ist, misstraute er, vor allem dem A. Zu warm sei es, an ihm erkenne man sein Schweizertum. «Es ist einfach nicht gut genug.»
Daran arbeitete er unermüdlich. Doch die Technik konnte ihn nicht immer beschützen. Er erzählte mir, wie sehr ihn die Darstellung von Hitler verfolgt hatte, bis hinein in die Nächte. Der Zweifel, sein ewiger Zweifel, ob er mit seiner Technik der Aufgabe gewachsen war, der Arbeit am Text, an der Rolle, an den Gesten.
Die Kunst des Verschwindens
Da erinnerte ich mich, wie ich einmal zur Biennale nach Venedig flog. In der Schlange standen alles Journalisten und Kunstkenner. Und es stand in der Schlange, als wäre es eine Schwelle zur Küche, Bruno Ganz. Keiner erkannte ihn. Weshalb? fragte ich ihn später.
Er konnte, so deutete er an, sich selbst auslöschen, von der Bildfläche verschwinden, um seine ganze Kraft dann auf der Bühne oder in Filmen zu entfalten. Die Kunst des Verschwindens, um dann die ganze Kraft am Set zu versprühen.
Er war die eine Seite ganz dem Nichts verpflichtet, das uns alle erwartet, die andere dem Jetzt-Augenblick in der Fülle der Präsenz. Ein dionysisches Ja zum Augenblick, der, wie Nietzsche sagte, die Ewigkeit, die Lust an der Ewigkeit will.
Eine Lust, die so gross, so intensiv ist, dass man dafür die ewige Wiederkehr der Welt mit all ihren Tragödien in Kauf nimmt, um die Intensität des Augenblicks erfahren und geniessen zu können – nicht für sich selbst, sondern für alle, die als Zuschauer von Bruno Ganz an diesem unvergänglichen Jetzt des Augenblicks teilnahmen, der über die Zeit und auch über den Tod erhaben ist.
Einen solchen Augenblick erlebte ich auch, als ich mit seinem Sohn Daniel am See entlangspazierte, über das gleissende Licht und die Wellen sprach, über den Klang der Gitarre, während sein Vater in der Ausstellung im Rietberg-Museum war.
Es war, als würde der einsame Zweig aus dem Museum bis an den See reichen, einsam und verloren vor der Leere des blendenden Lichts. Ein Zweig, der sich nach einer Umarmung sehnt, nach einer Umarmung vielleicht, so denke ich heute, nach einer Umarmung mit ihm, seinem Sohn.
Der lag ihm bei allen Gesprächen und Begegnungen so sehr am Herzen, dass es mich zerreisst, wenn ich daran denke, dass er, Bruno Ganz, als Zweig seinen Sohn nicht mehr vor jenem Nichts und Rätsel beschützen kann, in das wir alle eingehen – hoffend, dass wir bei Daniels Spiel mit der Gitarre oder Brunos Spiel mit dem eigenen Stimmband jenen Schein des Schönen erahnt haben, das als diony sisches Ja zum Jetzt eine Ah nung der ewigen Wiederkehr vermittelt.