Sebastian drückt Daniel Jositsch einen PET-Flaschen-Deckel, gefüllt mit kleinen Steinen, in die Hand und sagt: «Para comer – zum Essen.» Jositsch bedankt sich und fragt in fliessendem Spanisch, ob das denn Fleisch sei. Der Fünfjährige nickt, strahlt und überreicht dem Gast aus der Schweiz noch vier weitere Deckel. «Oh, da muss ich aber viel essen!»
Es ist ein schwül-heisser Morgen, als der Zürcher SP-Ständerat Jositsch, 52, zusammen mit Parteikollegin Chantal Galladé, 44, das Barrio El Posón besucht. Das Viertel liegt nur etwa 40 Autominuten vom touristischen Zentrum der kolumbianischen Küstenstadt Cartagena entfernt – doch es ist eine andere Welt.
Statt herausgeputzter Plätze mit prächtigen Kolonialbauten und blumengeschmückten Balkonbalustraden türmt sich hier der Abfall auf dem staubigen Boden. 100'000 Menschen leben in diesem von Banden kontrollierten Slum in Armut. Die Familie von Sebastian trifft es gleich doppelt schwer. Denn der Bub mit dem ansteckenden Lachen leidet an Epilepsie.
Jositsch will von der Mutter wissen, wann die Krankheit angefangen hat. «Mit acht Monaten kamen die Anfälle. Heute bekommt er Medikamente. Und zum Glück hilft uns die Stiftung Aluna mit ihren Heilpädagogen.»
Jositsch kennt die beiden Gesichter Kolumbiens. Jenes voller Farben, des Dufts von Kaffee, der quirligen Städten – und jenes der Armut, des Drogenhandels, der Gewalt. Im Alter von 25 Jahren beschloss er kurz nach dem Jurastudium, nach Kolumbien zu ziehen.
Damals, Ende 1989, befindet sich das Land im Nordwesten Südamerikas mitten im Drogenkrieg. Kurz bevor Jositsch die Schweiz verlässt, sprengt Narco-Boss Pablo Escobar ein Flugzeug der staatlichen Fluggesellschaft in die Luft. «Niemand wollte zu dieser Zeit nach Kolumbien – ich schon!»
Als Student reiste Jositsch zuvor durch Südamerika – und verliebte sich ins Land. Mit einer Kolumbianerin war er sieben Jahre verheiratet. «Die Herzlichkeit der Menschen fesselte mich.»
In Kolumbiens Hauptstadt Bogotá arbeitete Jositsch als Geschäftsführer der Schweizerisch-Kolumbianischen Handelskammer und erwarb das kolumbianische Anwaltspatent. «Eigentlich um Schweizer Firmen zu vertreten. Ich habe aber auch Schweizer im Gefängnis besucht, die sich durch Drogenhandel ihre Reise finanzieren wollten.»
Seit diesem Januar besitzt Jositsch nun auch den kolumbianischen Pass. Jetzt zeigt er zum ersten Mal seinem 13-jährigen Sohn seine zweite Heimat. Bei der Reise nach Bogotá und Cartagena ebenfalls dabei: Parteikollegin Chantal Galladé und deren 13-jährige Tochter.
Jositsch und Galladé waren mehrere Jahre ein Paar, trennten sich Anfang 2014. «Wir sind nicht wieder zusammen. Sondern einfach gute Freunde», sagt Galladé. Jositsch ist wichtig, dass seine Familie und Freunde nicht nur die Sonnenseiten von Kolumbien kennenlernen.
Deshalb besuchen sie die Schule und die mobilen Projekte der Stiftung Aluna. Diese kümmert sich um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die in den Barrios vor den Mauern der Millionen-Stadt Cartagena leben.
«Weil hier viele Kinder an Mangelernährung leiden und die Eltern praktisch keinen Zugang zu Medikamenten haben, ist das Risiko einer Behinderung besonders gross», erklärt Ursula Schläppi, 52, ihren Gästen. Die Heilpädagogin aus Guttannen BE ist Direktorin der Stiftung, die von einem schweizerischen und einem kolumbianischen Verein getragen wird. Jositsch kennt Aluna durch einen befreundeten Schweizer, der im Vorstand mitarbeitet.
Auf einem bunten Teppich in der sonst kargen Hütte sitzt der einjährige Hael Andrés und schaut mit grossen Kulleraugen Chantal Galladé an. Seine Beinchen sind verkrümmt, seine Mutter und die Heilpädagogin stützen ihn. Der Einjährige leidet an einer psychomotorischen Entwicklungsverzögerung.
Einmal pro Woche besucht ihn die Heilpädagogin von Aluna. Sie spielt mit dem Kleinen und zeigt den Eltern, wie sie ihr Kind trotz Behinderung fördern können.
Während Galladé die Nähe zum Jungen sucht und ihm farbige Kügelchen in die Hände drückt, fragt Jositsch die Grossmutter, zu wievielt sie in der kleinen Hütte mit Blechdach und Lehmboden leben. «Zu sechst.» – «Und bekommen Sie finanzielle Unterstützung vom Staat für den behinderten Enkel?» Sie schüttelt den Kopf.
Die Erfahrungen in Kolumbien haben Jositsch geprägt. «Man wirft mir ab und zu vor, ich fahre für einen SPler beim Strafrecht einen zu harten Kurs. Aber ich weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, wenn der Staat seinen Bürgern keine Sicherheit bieten kann!»
Im Gegensatz zu anderen Genossen hat Jositsch auch keinerlei Sympathien für lateinamerikanische Guerillabewegungen. «Ich bin nie mit einem Che-Guevara-T-Shirt durch die Gegend gerannt!»
Im Moment gibt es Wichtigeres als die Bundesratskandidatur. Etwa das Engagement für Kolumbien.
Mit der marxistischen Bewegung der Farc-Guerillas in Kolumbien hat er besonders Mühe. Zwar begrüsst Jositsch, dass es nach 50 Jahren Bürgerkrieg nun zum Frieden zwischen der Farc und der Regierung gekommen ist. «Dass Mörder und Drogenhändler fast straffrei davonkommen, finde ich als Jurist hingegen sehr fragwürdig.»
Auf dem Weg aus dem Armenviertel ins Schulzentrum von Aluna zeigt sich Jositsch betroffen. «Es ist paradox: Wir in der Schweiz schauen, dass wir nicht zunehmen, und hier haben sie kaum etwas zu essen.»
Anfang 2013 nimmt Jositsch innerhalb von fünf Monaten 40 Kilo ab – und hält seither sein Gewicht. Auf den Maracujasaft beim Bummel durch die Altstadt von Cartagena verzichtet er, dafür gibts für seinen Sohn zwei Smoothies. «Ich zähle die Kalorien. Und gehe auch hier jeden Tag eine Stunde auf den Crosstrainer!»
Dabei schaut er am liebsten kolumbianisches TV. «Meist Nachrichten, es gibt aber auch gute Telenovelas!»
Nach fünf Jahren im Land entschloss sich Jositsch 1995, Kolumbien zu verlassen. «Der Entscheid fiel mir sehr schwer. Aber ich wollte auch gerne in die Schweiz zurückkehren.» Erst die Vereidigung zum Kolumbianer im Januar bringt Jositsch wieder ins Land.
«22 Jahre sind eine lange Zeit. Aber ich hatte Angst, dass mir der Abschied dann noch schwerer fällt.» Dass er nun einen kolumbianischen Pass besitzt, bedeutet ihm viel. «Mit dem Pass kann ich meine Solidarität zum Land zeigen, dessen Menschen sehr viel Unterstützung brauchen können!»
Sorgen, dass ihm die Doppelbürgerschaft politisch im Weg stehen könnte – etwa bei einer künftigen Bundesratskandidatur – hat er nicht. «Im Moment gibt es Wichtigeres. Etwa das Engagement für Kolumbien.» Die Kinder der Aluna-Stiftung erobern das Herz des sonst eher distanziert wirkenden Politikers. Besonders der kleine Sebastian, der Jositsch zum Abschied einfach umarmt. Sie sind ja Landsleute!
Spendenkonto der Stiftung Aluna: Grupo Colombo-Suizo de Pedagogia Especial, 8124 Maur. PC-Konto: 87-407961-0.