Es hat Monate gedauert, bis sich Evelyne Binsack, 46, so richtig über ihr Haus im Berner Oberland freuen konnte. Zu sehr waren die eigenen vier Wände mit Schmerz, Enttäuschung, Wut und Frust verbunden. «Marcel und ich wollten hier zusammen leben und alt werden», sagt sie im Gespräch mit der «Schweizer Illustrierten» Nr. 46. Gemeinsam mit ihrem Freund, einem Architekten, hatte die Extrembergsteigerin und Abenteurerin ihr Traumhaus geplant.
Die Beziehung zerbrach 2012. Eine Erfahrung, die Evelyne Binsack lange Zeit arg zusetzte. Jedes Mal, wenn sie in ihr neues Haus heimkehrte, kamen die Erinnerungen und der Schmerz zurück. Bis zum Sommer dieses Jahres. «Ich stand eines Abends auf meinem Balkon und schaute in die Berge - plötzlich verspürte ich zum ersten Mal Freude und eine tiefe Befriedigung», erinnert sich Binsack.
Das Holzhaus, das sich die Frau, die 2001 als erste Schweizerin auf dem 8848 Meter hohen Mount Everest stand, geschaffen hat, ist ein Bijou. Im Alpinstil gehalten, könnte die 150 Quadratmeter grosse Lodge auf 2500 Quadratmetern Umschwung auch in der kanadischen Wildnis stehen. Ein Haus, das der Naturverbundenheit Binsacks entspricht. Neben Tannenholz hat sie Teile eines alten Bauernhauses aus Frutigen BE verbaut. Die Säulen ihres Balkons hat sie selbst gebürstet. Das Geländer ihrer Galerie stammt aus Ästen, die sie in ihrem eigenen Waldstück zusammengesammelt, von Rinde befreit, gesägt und bearbeitet hat. Dass sie jetzt alleine wohnt, soll und wird kein Dauerzustand sein. Neben ihrer eigenen Wohnung gibt es noch ein rund 60 Quadratmeter grosses Zwei-Zimmer-Studio mit separatem Eingang, das Binsack, sobald es fertig ausgebaut ist, vermieten will. «Jeder Monat, den es leer steht, ist verloren - dafür bin ich Geschäftsfrau genug, um das zu wissen», sagt sie lachend.
Bergsteigerin Evelyne Binsack gehört zu einer Handvoll Frauen in der Schweiz, die erstens ihr Hobby zum Beruf gemacht haben - und zweitens davon leben können. Wobei Binsack vor allem von ihren Vorträgen lebt. Seit Oktober und bis Ende März 2014 tourt sie mit dem Vortrag «ÜberLebensWille» durch die Deutschschweiz. Es ist ihre erste Arbeit als Dokumentarfilmerin. Wobei sie sich bescheiden zeigt und erklärt, dass die Bezeichnung «Dokumentarfilmerin» zu hoch gegriffen sei. An sechs bis zwölf Abenden monatlich zeigt und spricht Evelyne Binsack über das, was sie Anfang dieses Jahres bei ihrer Rückkehr zum höchsten Berg der Erde erlebt hat. Sie geriet in eine Eislawine und musste ihr Ziel, erneut auf dem Gipfel des Mount Everest zu stehen, sausen lassen.
In Wil SG lauschen vorvergangene Woche 140 Besucher im Stadtsaal Binsacks packenden Schilderungen und folgen fasziniert dem, was sie mit ihrer Kamera im Himalaya eingefangen hat. Sie selbst hatte mit höchstens 70 Interessierten gerechnet. Bei einem Eintrittspreis von 30 bis 32 Franken nimmt Binsack an diesem Abend etwas über 4400 Franken ein. Nach Abzug von Saalmiete (900 Franken), Kosten für Technik sowie sonstigen Ausgaben dürften rund 2000 Franken übrig bleiben. Das klingt im erstem Moment nach viel, ist aber, aufs ganze Jahr gesehen, nicht allzu üppig. Hotelkosten spart sie sich, sie übernachtet an diesem Abend wieder einmal auf der umgeklappten Rücksitzbank ihres Autos.
Binsack ist dankbar dafür, dass sie ihr Leben so führen darf, wie sie es tut. «Dabei war meine Ausgangslage nicht unbedingt so glorreich», sagt sie und meint damit ihre Anfänge als Sportartikelverkäuferin. Wenn sie jetzt im eigenen Zuhause die Dusche aufdreht, weiss sie es besonders zu schätzen, dass warmes Wasser über sie prasselt. Denn egal, ob sie auf Achttausender klettert oder sich per Velo und Ski vom Berner Oberland an den Südpol kämpft, bei ihren Expeditionen muss sie manchmal tagelang auf den Luxus von fliessendem Wasser verzichten.
Dass die jüngsten Erlebnisse am Everest Evelyne Binsack verändert haben, spürt, wer sie länger kennt. «Sie ist viel ruhiger geworden», bestätigt Christian Zimmermann, der die Bergsteigerin im Frühjahr an den Everest begleitete. Früher habe Evelyne nur ein Ziel gekannt: Berge, Berge, Berge. Erst danach seien Freunde und Bekannte gekommen. «Das ist jetzt anders», sagt Zimmermann.
Binsacks Mut und Zuversicht sind ungebrochen. Dass sie bereits ein neues Projekt im Kopf hat, bejaht sie. Nur verraten, was genau als Nächstes ansteht, das will sie noch nicht. Und dass man sie fragt, wie lange sie sich als 46-Jährige noch als Abenteurerin durchs Leben schlagen will, versteht sie nicht - vielleicht will sie es auch gar nicht verstehen.
Binsack, die mit den Bildern ihrer Abenteuer die Sehnsucht des Publikums stillt, hat in ihrem Haus kein einziges TV-Gerät. «Fernsehen ist für mich grundsätzlich schon okay, aber das kann ich tun, wenn ich achtzig bin», sagt sie. Lieber schaut sie vom Wohnzimmer über die Terrasse hinauf ins Grimsel- und Sustengebiet. Ein atemberaubender Ausblick!
Diese Traumaussicht will sie irgendwann wieder teilen - mit einem Mann. Die Wunden verheilen langsam. Heute ist Marcel ein «Kollege, mit dem ich hin und wieder spreche». Er ist zudem an jedem Vortragsabend präsent - dann, wenn sein Name im Abspann über die Leinwand flimmert.
Ob sie jetzt, mehr als ein Jahr nach ihrer schmerzhaften Trennung, für eine neue Beziehung bereit ist? «Das habe ich mir noch gar nicht überlegt.» Eines weiss Evelyne Binsack aber sehr genau: «Ich spüre, dass ich in meinem Leben noch heiraten werde.»