Die Sonne steht tief, das Ufer des Hallwilersees ist mit Frost bedeckt. Dick eingepackt marschiert Lucas Fischer, 28, auf den Betonblock zu. Der ehemalige Spitzenturner ist auf Einladung der 3. Real der Kreisschule Oberes Seetal hier. Die Klasse aus Meisterschwanden hat den Aargauer bestürmt, sie zu besuchen. In der Weihnachtszeit kommt der heutige Künstler diesem Wunsch gerne nach.
Drinnen im Klassenzimmer ist es warm und gemütlich. Kerzen und ein herrlich duftender Lebkuchen versprühen weihnachtliches Flair. Die 16 Schülerinnen und Schüler der 3. Real sind bestens auf ihren prominenten Gast vorbereitet: Im vergangenen Quartal haben sie Fischers Buch «Tigerherz» als Klassenlektüre behandelt.
Vom Spitzensportler mit Epilepsie zum Künstler
Die 15 Kapitel beleuchten das Schicksal des Kunstturners. Mit 20 Jahren ist Fischer an Epilepsie erkrankt und musste seinen Traum vom Spitzensport aufgeben. Heute begeistert er mit seiner «Lucas-Fischer-Show», einer Mischung aus Akrobatik, Tanz und Gesang, das Publikum im In- und Ausland.
Seine Art, mit Rückschlägen umzugehen, habe den Schülerinnen und Schülern Mut gemacht, sagt Klassenlehrerin Franziska Baumgartner, 63: «Meine Klasse ist jetzt in der Endphase der Lehrstellensuche. Viele sind entmutigt, weil sie eine Absage nach der anderen bekommen. Das Buch zeigt, dass das Leben weitergeht, egal was passiert.»
«Seid mutig!»
Dass ihr das Wohl der jungen Menschen am Herzen liegt, merkt man der passionierten Lehrerin an. In dieser Lektion bestimmt nicht sie, wos langgeht. Es sind die Schülerinnen und Schüler, die das Gespräch mit Fischer führen. «Seid mutig!», ruft sie in die Runde.
«Das Turnen war das Einzige, was ich geliebt habe»
Larissa Utting, 17, ist die Erste, die sich zu Wort meldet: «Wie hast du aus deiner Depression herausgefunden?» Geduldig erzählt Fischer von der Turnerblase, in der er seit seiner Kindheit gelebt habe, und wie ihm seine neue Freiheit zuerst Angst machte. «Das Turnen war damals das Einzige, was ich liebte. Ich musste eine neue Leidenschaft entdecken. Nach Spaziergängen im Wald habe ich begonnen, meine Emotionen niederzuschreiben. Daraus sind Songtexte entstanden», sagt Fischer.
Lucas Fischer war kein Vorzeigeschüler
Nachdem Larissa das Eis gebrochen hat, stellen auch die anderen ihre Fragen. Jlona Hurni, 15, die einen Fensterplatz in der hintersten Reihe hat, will von Fischer wissen, wie er seine Schulzeit erlebt hat. «Ich war ein vorlauter Lausbub. Im Training musste ich stets fokussiert sein. Die Schule war für mich der Ort, wo ich Dampf ablassen konnte.»
Nach 20 Minuten dreht Lucas Fischer den Spiess kurz um und fragt die Klasse: «Wer von euch hat schon alles eine Lehrstelle?» Gut die Hälfte streckt auf. Elia Koch, 15, war laut Frau Baumgartner der Erste der Klasse, der eine Zusage in der Tasche hatte. «Ich beginne im August eine Lehre als Malermeister», sagt Elia mit glänzenden Augen.
«Bei manchen nagen schlechte Noten am Selbstbewusstsein»
Nicht bei allen verläuft die Lehrstellensuche so reibungslos. «Bei manchen nagen Absagen oder schlechte Noten am Selbstbewusstsein», sagt Frau Baumgartner. «In solchen Situationen kann ‹Tigerherz› helfen, wieder an sich zu glauben», erklärt der Künstler. Es sei generell wichtig, sich im Leben immer wieder neue Ziele zu setzen, so Fischer.
Ein Beispiel hierfür liefert Colin Schläpfer, 16. Er beginnt nach der Schulzeit eine Lehre als Fachangestellter Gesundheit. Statt sich nun zurückzulehnen, denkt Colin bereits weiter in die Zukunft: «Ich fahre schon Roller und möchte mit 18 die Autoprüfung machen.»
«Ich bewundere Lucas für seine Willensstärke»
Noch weit entfernt von der Rollerprüfung ist Schülerin Milu Michael. Sie ist mit 14 Jahren die Jüngste der Klasse. Ihr schwebt eine Ausbildung als Automobilfachfrau vor. «Ich bewundere Lucas für seine Willensstärke. Als Verteidigerin beim FC Meisterschwanden musste ich auch schon mit Rückschlägen kämpfen», sagt Milu.
Viel zu schnell ist die Spezialstunde vorbei. Bevor sich Lucas Fischer auf den Rückweg nach Möriken AG aufmacht, gibt er noch Autogramme und steht den Schülerinnen und Schülern für Fotos zur Verfügung.
Das Gespräch mit den jungen Menschen hat ihn beflügelt: «Was für eine taffe und wissbegierige Klasse! Ich bin beeindruckt, wie offen und ohne Hemmungen sie meine Epilepsie angesprochen haben.» Total aufgekratzt und mit einem selbstgebackenen Lebkuchen im Gepäck verlässt Fischer das Klassenzimmer.