Herr Blatter streichelt eine Bärentatze. Denn auf dem Zürichberg gibt es Bären. Nicht nur im Zoo. Auch auf Joseph Blatters Sofa. Es gibt auch Schafe. Und eine Euromaus. «Ich bin ein Sammler von Stofftieren», sagt er. Irgendwann begannen ihm alle möglichen Leute Stofftiere zu schenken. Und jetzt ist die zahme Herde auf den zwei Stockwerken seiner Mietwohnung verteilt und schaut mit schwarzen Knopfaugen in die Leere des Raums. Oder was Herr Blatter so macht.
Er steigt die Treppe hinauf, im Nacken den Blick eines zwei Meter grossen Eisbären, den sie ihm einst in Island geschenkt haben. Vorbei an diesem Gemälde, das Blatters Welt zeigt. Zu sehen sind am linken Bildrand seine Tochter, daneben seine Enkelin, links oben das Matterhorn.
Der Planet Blatter
Ein Fussball fliegt weit über einen Tisch, auf dem ein Glas Weisswein und Schachfiguren stehen. In der Mitte Blatters lächelndes Gesicht. Aus seinem Kopf strahlt das Licht in alle Himmelsrichtungen. Auf dem Planeten Blatter geht die Sonne auf.
Jeden Morgen um sechs hört er Nachrichten. Dann macht der 82-Jährige Morgengymnastik, tanzt zur Musik, die gerade im Radio läuft. «Das Tanzen haben wir als Einlaufen bei der Fifa eingeführt. Das hält mich fit.» Diese Wohnung hatte er schon als Fifa-Präsident. Auch danach blieb er hier – alleine.
«Wissen Sie», sagt er, «ich habe immer zu wenig Zeit. Je älter man wird, je klarer wird es, dass einem wenig Zeit zum Leben bleibt. Ich setze mich ab und zu unter Stress. Aber wenn ich nichts mehr tue, passt es mir auch nicht.»
Ich werde nie abschalten können
Die Geopolitik interessiert ihn. Machtverhältnisse. Und der Fussball. Immer noch. Eine Super-Show sei das. «Das Fernsehen bezahlt für die Rechte. Sonst brauchen sie nichts zu machen. Keine Tänzerinnen, nix.» Sie müssten nur einen Kommentator haben, der nicht meint, er sei am Radio. Zwei Stunden, so gut wie eine klassische griechische Tragödie.
«Nur weiss man in meinem Drama das Resultat nicht.» Dann sagt er: «Wissen Sie, ich kann nicht sagen, dass ich irgendwann abgeschaltet hätte oder es je werde tun können. Das gibt es nicht mehr. Was passiert ist, ist ein Stich, der immer bleibt.»
Vor drei Jahren brach Blatters Welt zusammen
Drei Jahre ist es her, dass die Welt des Vispers in sich zusammenfiel: zunächst am 27. Mai mit den Verhaftungen von Fifa-Leuten im Hotel Baur au Lac, dann am 25. September 2015. Blatter hat gerade ein Meeting des Fifa-Exekutivkomitees geleitet. Er sitzt an seinem Pult, als ihm eine Mitarbeiterin einen Zettel zusteckt. Einige Herren der Schweizer Bundesanwaltschaft seien im Haus, steht da.
Vorgeworfen werden ihm eine «treuwidrige Zahlung von zwei Millionen Franken im Februar 2011» an seinen Vize Michel Platini, «angeblich für Dienste zwischen Januar 1999 und Juni 2002», und ein für die Fifa ungünstiger Vertrag über Fernsehrechte, den er im September 2005 mit der Caribbean Football Union respektive deren Präsidenten Jack Warner abgeschlossen hatte.
«In drei Tagen bin ich zurück»
Am 8. Oktober werden Blatter und Platini von der Fifa-Ethikkommission für 90 Tage suspendiert. Blatter muss seinen Arbeitsplatz räumen. Bevor er sein Büro verlässt, schenkt er seinen Mitarbeitern noch eine Runde Weisswein aus. Er hält das alles für einen schlechten Scherz. «In drei Tagen bin ich zurück.»
Dazu wird es nie kommen. Am 21. Dezember 2015 werden Blatter und Platini von der Fifa-Ethikkommission für acht Jahre gesperrt. Ende Februar 2016 senkt die Fifa-Rekurskammer die Sperre auf sechs Jahre.
Blatter, der 1975 zur Fifa kam, als Angestellter Nummer 12, der aus ihr eine Milliarden-Geldmaschine mit 400 Mitarbeitern schuf, rund um die Welt wie ein Staatspräsident geehrt wurde, fällt tief. Über die Jahre hat er alle anderen Stürme ausgestanden. Vorwürfe wegen Stimmenkaufs bei seiner ersten Wahl zum Fifa-Präsidenten 1998, eine Klage wegen finanziellen Missmanagements 2002 oder seine Mitwisserschaft über die Schmiergeldzahlungen an Fifa-Funktionäre 2012. Aber der letzte Sturm bläst ihn fort.
Herr Blatter lächelt, er wirkt nicht mehr so angeschlagen wie im Dezember 2015, als er während der Pressekonferenz ein Pflaster im Gesicht hat und aussieht wie die zusammengeflickte Hülle seiner selbst. Heute ist er gesund, charmant. Er sendet immer. Über die Augen, seine Gesten, sein Lächeln.
Mit Partnerin Linda zum «Wältgupp»
«Es ist nicht so, dass ich nicht schlafen kann. Aber man kann nicht 41 Jahre in diesem Beruf sein, alles erleben und dann sagen: Okay, ich schaue nur noch vorwärts, ich schliesse jetzt ab.» Für ihn war der Fall, der immer noch bei der Bundesanwaltschaft liegt, stets klar. «Es ist ein Fall, der nach Zivilrecht beurteilt werden müsste und nicht nach dem Strafgesetz.»
Denn die Fifa sei ein Verein. 2011 sei die Zwei-Millionen-Zahlung vom Kongress in den Finanzen angenommen worden. «Mir ist es wichtig, dass das einmal aufhört, dass die Sperre einmal aufgehoben wird. Nicht erst, wenn die Zeit abgelaufen ist.»
Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Blatter erzählt von seiner Russlandreise, von der Einladung Putins an die WM. «Zum Wältgupp», wie Blatter sagt. Je drei Tage Moskau und St. Petersburg. «Die haben mir ein Flugzeug geschickt. Aber nicht ein russisches, ein normales.»
Also ist er mit seiner Partnerin Linda Gabrielian, 54, dahin. Als er durch die Fan-Zone geht, baumelt eine Akkreditierung um seinen Hals. Darauf steht: Joseph Blatter, Fan. Viele erkennen ihn. Südamerikaner, Afrikaner. «Sie riefen: Blatter, Blatter, rannten auf mich zu, wollten ein Bild mit mir. Es war schön.» Er geniesst die Aufmerksamkeit, gibt den Weltmedien Auskunft, denkt: Die Zeit ist stehen geblieben.
Putin hat mir gesagt, ich sei sein Freund
Blatter erzählt vom Empfang bei Putin. «Er sagte mir, ‹weisst du noch, wie wir nach dem Wahltag telefoniert haben und du mir gesagt hast: Wir haben gewonnen!?› Er wusste noch jedes Detail.» Blatter lacht. «Putin hat mir gesagt, ich sei sein Freund. Also ist er auch mein Freund.»
Auch seinen Nachfolger Gianni Infantino beobachtet er, wie er in der Loge mit den Staatspräsidenten um die Wette grinst. «Das war eine könig-kaiserliche Loge. Zwei Vertreter der Länder und König Infantino mittendrin. Also für meinen Geschmack etwas übertrieben.» Aber ein Problem habe er mit Infantino nicht.
Blatter geht in die Küche, will einen Kaffee rauslassen. Die Kapsel klemmt. Er rüttelt am Bügel. «Ich habe zwar fünf halbe Tage eine Haushälterin. Aber ich weiss schon, wie man Kaffee rauslässt.» Er leert den Kapselbehälter, drückt den Knopf. «Sooo, bizzi Zucker drii!» Die Tasse stellt er auf einen Papieruntersetzer mit Fifa-Aufdruck. Er hat noch einen grossen Stapel auf Vorrat.
Er holt ein neues Jackett, denn er muss zu einem Fotoshooting im Hauptbahnhof. Die bekanntesten Schweizer werden porträtiert. Irgendwann wird Blatters Konterfei in einem grossen Museum hängen. Als er die Wohnungstür schliesst, erwähnt er das Hallenbad im Erdgeschoss.Aber Schwimmen mag er nicht. Mochte er noch nie. Als er Ende der 50er-Jahre die Offiziersschule in Bern besucht, wird er eines Morgens um fünf geweckt. Sie gehen ins Freibad Ka-We-De. Dort werfen sie den Nichtschwimmer Blatter ins Wasser. Er schafft es irgendwie zum Beckenrand. Später wird er Regimentskommandant bei der Versorgung. Dort wirft ihn niemand mehr ins Wasser. Rückenschwimmen könne er schon, sagt er. Aber er macht es halt nicht so gerne.
Ein Chauffeur mit schwarzem Mercedes holt ihn ab. Vor dem Fenster ziehen die Häuser des Zürichbergs vorbei. Warum ist er nicht zurück ins Wallis? «Weil ich 44 Jahre hier lebe und Zürich zu meiner Heimat geworden ist. Als Fifa-Präsident hatte ich kaum Zeit. Jetzt habe ich die Stadt kennengelernt. Sie ist attraktiv. Und die Leute in Zürich sind … sehr nett!»
Natürlich mag er das Wallis. Visp, seine Heimat, die Energiestadt. Das Windloch mit der Rhone und der Vispa. «Wenn ich ambrüf (hinauf) gehe, dann tanke ich Energie. Danach kann ich wieder nach Zürich.» Seine Tochter Corinne sage ihm immer, er müsse sich bald entscheiden. Wegen der Zeit. Er soll doch nach Visp kommen.
Dann könne er mit seinen Jahrgängen sein. «Aber das ist nicht meine Welt. Die haben einen anderen Rhythmus. Sie sind pensioniert. Die spazieren dann mit ihren Frauen.» Er sagt auch, dass ihm die «Tschugge z engi sind», die Felswände zu eng.
In Zürich fotografieren ihn die Leute manchmal auf der Strasse oder im Tram. Er geht in die Migros und den Coop oder ins «Cheeslädeli» am Klusplatz. Selber einkaufen, das hat er jahrzehntelang nicht mehr gemacht. «Aber auch als Fifa-Präsident habe ich die Koffer selber gepackt. Inklusive ‹Undergwand›.»
Einmal am Tag geht er richtig essen. Entweder lädt er ein oder er wird eingeladen. «Alleinzig», wie er sagt, gehe er nicht essen. Auch wenn er sich selten alleinzig fühlt. Seine Partnerin Linda wohnt in Genf. Er sieht sie ab und zu. «Wir waren zusammen in Moskau. Sie redet Russisch. Das ischt no güet.»
«Es ist eine gute Beziehung.» Er sagt, dass er niemanden ständig um sich brauche. Denn er sei ein unmöglicher Typ. «Eine Bindung war für mich nie etwas Gutes. Weil ich mich immer eingeengt fühlte. Jetzt habe ich das begriffen.» Heiraten? «Nein! Nein! Wir haben gesagt, wir sprechen nicht übers Alter und nicht über Hochzeit.»
Am Hauptbahnhof wird Blatter von Taxifahrern erkannt. Sie lehnen an ein Geländer, nicken in seine Richtung und grinsen. Jetzt ist er weltlich. Das scheint sie zu freuen. Früher sah man ihn nur am Fernsehen, heute sucht er am HB einen Eingang. Wie ein älterer Herr aus Fleisch und Blut. Fotoshooting, Blitzlicht. Nach 15 Minuten gehts zurück ins Haus, wo die Regale voller Erinnerungsstücke sind. Fussbälle neben Automodellen, eine Jesus-Ikone, Porzellankännchen, Bilder mit Widmungen. Auch eins von Niki de Saint Phalle.
Im fünften Untergeschoss der Fifa gibt es eine ganze Lagerhalle, in der Geschenke von Blatter liegen. Stapelweise Teppiche, afrikanische Trachten, Porträts. Vieles haben sie ihm nicht zurückgegeben. Die Uhrensammlung, den Orden der afrikanischen Befreiung, den Orden «Ritter der französischen Ehrenlegion», mehrere Doktortitel und Ehrenprofessuren, das Bundesverdienstkreuz, den Bambi für Kommunikation. Dinge, die ihn an sein Leben erinnern. Denn sein Leben war die Fifa. Ein anderes gab es nicht.
Als Blatter als junger Mann erstmals Ferien machen will, fragt ihn sein Vater, was er tun wolle. «Ich sagte: Nach Rimini ans Meer, weil ich noch nie am Meer war. Er fragte mich: Wofür? Ich sagte: Um auszuruhen. Er: Du gehst jetzt zu deiner Mutter und hilfst ihr im Garten. Ausruhen kannst du auf dem Friedhof. Da stört dich auch niemand.»
Blatter hat von der Fifa noch drei Jahre Ferien zugute. Einmal versuchte er, drei Tage Ferien zu machen. Nach eineinhalb Tagen war er zurück. «Das war dumm. Ich hätte Ferien machen sollen. Jetzt könnte ich Ferien machen, aber ich habe es nicht gelernt. So blöd.» Blatter lacht.
Mittagessen im Restaurant Adlisberg. Blatter nimmt Rösti mit einer sehr gut gebratenen Schweinsbratwurst. «Ich beginne, das Inventar zu machen. Wo bin ich hingegangen, was habe ich getan? Ich habe alles Böse entschuldigt, aber nicht vergessen», sagt er. «Und wenn ich etwas Böses oder Schlechtes getan habe, bitte ich die Leute, auch mir zu verzeihen.» Er schreibe in Briefen: Ich bitte um Entschuldigung. Es sei immer positiv angenommen worden. «Ich bekomme Hühnerhaut. Es tut so gut, wenn man sagt, es tut mir leid.»
Der Glaube und die Liebe geben ihm Hoffnung. «Es macht mein Leben besser. Wenn dann nach dem Tod nichts ist? Egal!» Er ist da pragmatisch.
Klar, das Leben dürfte noch etwas bereithalten. «Dass der Fall endlich erledigt wird. Man hat mich als Chef der Korruption dargestellt. Aber ich habe ein ruhiges Gewissen.» Dann schaut er geradeaus, beisst in die Wurst. Hintergrundrauschen im Restaurant. Blatter sendet nicht mehr. Er ist wie durchsichtig.
Morgen wird er um sechs Uhr wieder aufstehen. Er wird turnen und tanzen. Hören, was in den Nachrichten kommt. Und warten. Vielleicht kommt ja noch etwas.