Dieses Erinnerungsfoto am Hafen von Caslano TI könnte in die Familiengeschichte eingehen. «Vielleicht ist es das letzte gemeinsame Bild, bevor meine Nichte Bundesrätin wird!», sagt Paula Christoffel, 73, und drückt Isabelle Moret, 46, an sich.
Seit ihrem sechsten Lebensjahr verbringt die Waadtländer FDP-Nationalrätin ihre Sommerferien im verschlafenen Nest am Lago di Lugano: «Unser grosser Familientreff!» Morets Verwandtschaft kommt aus der ganzen Schweiz. Neben Tante Paula und Cousine Eva Marty, 36, aus Davos ist auch Grosscousin Georges Petignat, 74, mit seiner Frau Josette, 72, aus Muttenz BL angereist. «Wir sind eigentlich Jurassier», betont er. «Einen Röstigraben gibt es bei uns nicht», sagt Moret und schmunzelt.
«Ich wollte sicher sein, dass meine Partei hinter mir steht»
Beim Spaziergang durch die pittoresken Gässchen von Caslano entdeckt Cousine Eva den Aushang der Tessiner Sonntagszeitung «il caffè». «Schau mal, die schreiben über dich!» – «Ah oui?», sagt Moret und blickt erstaunt. Es scheint ihr gar nicht richtig bewusst zu sein, dass sie zurzeit die wohl gefragteste Schweizer Politikerin ist. Vielleicht nimmt sie auch deshalb nie das Telefon ab …
Lange hat Moret gewartet, bis sie ihre Bundesratskandidatur am 8. August bekannt gab. «Ich wollte sicher sein, dass meine Partei hinter mir steht.» Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Moret hat zwei Kinder, ihre Tochter ist elf, ihr Sohn sechs Jahre alt. Von ihrem Mann, einem Bauernsohn, der heute CEO bei einem Schweizer IT-Unternehmen ist, lebt sie getrennt.
«Wenn sie ein Ziel hatte, erreichte sie es»
«Klar haben wir in der Familie über meine Kandidatur diskutiert. Sie steht hinter mir.» Da beide Kinder in die Schule gehen, sei die Betreuung nicht mehr so schwierig. «Wir sind gut organisiert. Der Papa schaut ebenfalls zu den Kindern, und sie haben zwei tolle Grossmütter!»
Morets Mutter passt auch während des Termins mit der Schweizer Illustrierten auf die Kinder auf – in die Öffentlichkeit möchte sie nicht. Dafür ist deren Schwester, Tante Paula, umso gesprächiger. «Isabelle war schon als Kind sehr ehrgeizig. Ob in der Schule oder beim Klavierspielen. Wenn sie ein Ziel hatte, erreichte sie es.»
«Ausgerechnet bei den Bernern!»
Ihr Jurastudium an der Universität Lausanne absolvierte Moret in nur drei statt vier Jahren – so wie sie sich das vorgenommen hatte. Sie war in ihrer Familie die Erste, die überhaupt an die Uni ging.
«Meine Grossmutter war Fabrikarbeiterin. Als ich ihr mit 18 eröffnete, dass ich Anwältin werden möchte, sagte sie: Dieser Beruf passt nicht zu uns!», erzählt Moret und lacht. Dass sie danach noch nach Bern ging, um das Fürsprecherpatent zu absolvieren, habe der jurassischen Familie aber noch weniger gefallen. «Sie schimpften: Ausgerechnet bei den Bernern!»
Eine Familie mit starken Frauen
Isabelle Moret ist auch die Erste in der Familie, die im Kanton Waadt geboren ist. Ihr Vater stammt aus Basel-Stadt, ihre Mutter aus Braggio im italienschsprachigen Bündner Calancatal. Der Eisenbähnler und die gelernte Verkäuferin arbeiteten beide beim Infodienst an der Expo 64 in Lausanne und verliebten sich.
Sechs Jahre später kam Isabelle zur Welt. Sie wächst dreisprachig auf, unterhält sich mit ihrer Mutter auf Italienisch, mit ihrem Vater auf Schweizerdeutsch – und spricht in der Schule Französisch. «Als Einzelkind hatte ich einen engen Bezug zu meinen Cousinen. Sie waren wie Schwestern für mich.»
Im Winter geht die Familie in die Bündner Berge zum Skifahren, Moret macht mit 16 gar ein Praktikum bei ihrer Tante Paula, die in Davos ein Reisebüro aufgebaut hat. «Und das mit sechs Kindern zu Hause!», wirft diese ein. Sie seien eben eine Familie mit starken Frauen.
«Frausein» allein ist kein Argument
Für Moret, die mit ihren Kindern in einer Wohnung in der 1500-Seelen-Gemeinde Yens lebt, ist das «Frausein» allein kein Argument für den Bundesrat. «Es ist eine Lebenserfahrung.» Als sie im Dezember 2006 als Nationalrätin vereidigt wird, ist ihre Tochter erst wenige Monate alt. Zwischen den Sitzungen eilt Moret in ihre Zweitwohnung gleich beim Bundeshaus, um ihre Tochter zu stillen. Ihre Mutter passt auf die Kleine auf.
Später wohnen beide Kinder während der Session in Bern. «Heute geht das nicht mehr – sie müssen in die Schule.» Aber ihre Tochter, die ihr schon bis zum Kopf reiche, komme oft zu Besuch. «Sie war dabei, als Doris Leuthard zur Bundespräsidentin gewählt wurde, und fand das beeindruckend.»
An vorderster Front gegen die Rentenreform
Auf den ersten Blick könnte man Moret – zierlich, mit einer feinen, hohen Stimme – unterschätzen. Doch sie ist taff. Schon als junge Waadtländer Grossrätin überzeugte sie ihre männlichen Parteikollegen von einem Steuerabzug für Kinderkrippen. Heute kämpft sie an vorderster Front gegen die Rentenreform, weil sie diese als ungerecht für die Frauen empfindet.
SP-Nationalrätin Chantal Galladé, 44, ist überzeugt von Morets Qualitäten. «Ich erlebe sie als seriös und dossierfest.» Auch Kommissionskollege und SVP-Mann Heinz Brand, 61, lobt: «Sie lässt sich nicht leicht abspeisen. Sie bleibt dran, ist sehr engagiert.» Zwar hält Brand den Tessiner Ignazio Cassis für den haushohen Favoriten. Doch: «Wenn es darauf ankommt, ist Moret hartnäckiger als Cassis.»
«Grossväter hat es schon genug!»
Beim Pedalofahren in der Bucht von Agno sagt Moret: «Ignazio ist kein Konkurrent. Wir sind seit zehn Jahren Freunde!» Ironischerweise wohnt Cassis genau auf der gegenüberliegenden Seeseite in Montagnola.
Dass die Romandie mit ihrer Wahl in den Bundesrat übervertreten wäre, sieht Moret nicht als Killer-Kriterium. «Ich habe überall in der Schweiz Wurzeln.» Für ihre Davoser Tante ist klar: «Es wird Zeit, dass eine junge Mutter in den Bundesrat zieht. Grossväter hat es schon genug!»