600 000 sind täglich bei der «Tagesschau» dabei. Um die zwei Millionen bei Schweiz–Schweden. Der Fussball interessiert mehr als dreimal so brennend wie der Rest der Welt. Noch eine Frage?
Richtig: Die Frage, wo der Schweizer Fussball nach dieser WM angesiedelt werden kann, stellt sich jetzt automatisch. Und diese lässt sich nicht mit zwei Zahlen beantworten. Im Gegenteil, wahrscheinlich beantwortet diese Frage jeder und jede Einzelne der zwei Millionen anders.
Da hat es doch die «Tagesschau» mit ihrem Rest der Welt so viel, viel einfacher. Jeden Tag ein paar Ohrfeigen für Trump, Putin, Erdogan. Jeden Tag eine Kollekte für Hungernde, Erdbebenopfer oder Obdachlose nach einem Sturm oder einem Unwetter. Jeden Tag drei moralische Belehrungen plus ein paar altruistische Sätze über die Erderwärmung.
Jeden Tag eine schlotternde Wetterfee im Wind auf dem Dach, die so viel erzählt, dass am Schluss keiner mehr weiss, was sie am Anfang gesagt hat und ob es morgen nun regnet oder nicht. Die Welt, wie sie gestern war, wie sie morgen sein sollte, wird nach den Regeln der allgemeinen Belehrung aufgearbeitet!
Liegt es an den SRF-Reportern?
Vielleicht sind es beim Fussball darum viel mehr Zuschauer, weil der viel schwieriger zu positionieren und kurzweiliger ist denn eine gleichgeschaltete Weltanschauung? Wer weiss das schon. Könnte natürlich auch darum sein, weil bei einem Spiel am TV sogar heute noch jeder die Courage haben darf, sich eine eigene Meinung zu bilden, ohne in das Risiko zu laufen, als zurückgebliebener Tropf aus der Steinzeit beschimpft zu werden. Und der Ton mit dem Kommentar des Moderators lässt sich auch wegschalten, ohne dass die Einschaltquote sinkt! Das ist bei der «Tagesschau» dann doch schwieriger.
Aber vielleicht ist es auch umgekehrt: Vielleicht sind es sogar unsere künstlich wirkenden Fussballreporter mit ihrer oft schwachen fussballerischen Kompetenz, die eine hohe Einschaltquote ermöglichen. Es ist so einfach für jeden, der einmal gegen einen echten Ball gekickt hat, sich ihnen in der Analyse überlegen zu fühlen. Um hier nicht bösartig zu pauschalisieren, mit Andy Egli und dem sehr talentierten Mario Gehrer haben wir zwei Ausnahmen.
Unsere Schweizer, die früher Albaner waren, singen die Schweizer Hymne vor dem Match aus Prinzip nicht mit.
Selbstverständlich ist die Kritik an den TV-Reportern und Experten Teil der Popularität dieses Sports am Fernsehen. Unfassbar bleibt: Da lebt mit Marcel Reif der beste deutschsprachige Fussball-TV-Reporter der Geschichte unter uns, aber SRF hat ihn noch nie dafür engagiert, Ruefer, Kern & Co. den Blick zu schärfen und zu helfen, die wilden Tänze ihrer Zungen zu kontrollieren.
Der Schweiz fehlte «die Wut zum Sieg»
So. Zu unserem Fussball. Der ist nicht so schlecht, wie er nach dem Match gegen Schweden von denselben Experten gemacht wurde, nicht so gut, wie Salzi, Huggel, Ruefer und die anderen Lohnschönredner vor dem Spiel gegen Schweden lobten, aus lauter Angst, nicht 90 Minuten später als WM-Viertelfinalisten wie Trottel in der Landschaft zu stehen.
Oder war ihre Beurteilung der Qualität dieses Teams vor und nach dem Match etwa darum so krass unterschiedlich, weil unsere Experten so unsicher über ihr Urteilsvermögen sind, sie sich darum lieber hinter politisch korrekten Phrasen verstecken? Die Schweiz ist gegen ein biederes Schweden ausgeschieden, weil ihr in diesem Match die «Rage de vaincre» fehlte, die «Wut zum Sieg», oder eben die Doppeladler, die sie gegen Serbien zu dieser Wut und zum Sieg führten.
Darum reichte der bessere Schweizer Fussball gegen die biederen, aber von der Siegeswut befallenen Schweden nicht.
Nun sind wir auf direktem Weg in dieser Doppeladler-Diskussion, die sofort gehässig wurde, wenn sich wie bei einer WM die Experten in Sachen Moral und Soziologie zu Wort melden. Jene Experten, die zwar von Emotionen, Sport, Sieg und Niederlage keine Ahnung haben, weil für sie als hoch qualifizierte Eierköpfe Sport Mord ist.
Sie dafür umso eleganter formulieren, wenn von Rassismus und ähnlichem unmenschlichem Menschlichem die Rede ist. Diese «Rage de vaincre» von Shaqiri und Xhaka brachte uns in den WM-Achtelfinal. Dieselbe «Rage de vaincre» fehlte uns gegen die Schweden. Darum reichte der bessere Schweizer Fussball gegen die biederen, aber von der Siegeswut befallenen Schweden nicht.
Darum ist das Singen der Hymne so wichtig
Dies konnte jeder bereits vor dem Match wissen, den wir so kläglich verloren. Unsere Schweizer, die früher Albaner waren, singen die Schweizer Hymne vor dem Match aus Prinzip nicht mit. Das ist ihr gutes Recht. Wenn nun diese Schweizer, die früher Albaner waren, gegen die Serben, die früher Jugoslawen waren, spielen, spielt dies in Sachen «Rage de vaincre» überhaupt keine Rolle, schliesslich gibt es noch die brennende Lust, den Doppeladler zu zeigen.
Nun ist aber das Singen vor einem Wettkampf, der einen an die körperlichen Limiten führt, nicht einfach nur das Austoben von nationalistischen Gefühlen. Es ist ein seit Urzeiten bekanntes Mittel, eine zusammen kämpfende Gruppe von Nichteierköpfen in die «Rage de vaincre» zu befördern. Wer wie die vereinigten Schweden gemeinsam eine Art Triumphgeheul in den Himmel schmettert, produziert bei sich und dem Kameraden Adrenalin und andere leistungsfördernde Hormone, die einem Kämpfer übermenschliche Kräfte verleihen, was schliesslich den Unterschied ausmacht.
Dies wussten schon die Steinzeitmenschen, lange bevor es nationalistisches Gehabe gab. Die Sitte und der Glaube an dieses vorzeitige Triumphgeheul hat übrigens alle Epochen überlebt. Wer das nicht glaubt, sollte einmal den italienischen Übertorhüter Gigi Buffon vor einem Match hören, wie dieser die Italianità feiert.
Shaqiri und Xhaka sollten uns in den Viertelfinal führen. Die beiden Superfussballer, deren Familien als Migranten in die Schweiz gekommen sind, hatten ohne die «Rage de vaincre» gegen die um jeden Ball kämpfenden Schweden keine Chance. Ohne es zu wollen und ohne sich dagegen wehren zu können, dachten die beiden aus bitterer Armut kommenden Kicker sofort an ihre wertvollen Beine und ihre Verträge in der kommenden Saison, als sie die schwedischen Riesen auf sich losstürmen sahen.
So kamen sie, wie unschwer zu sehen war, gar nie in die Situation, ihr überlegenes fussballerisches Können zu zeigen. Auch darum bin ich der Ansicht, dass zum Kader der Schweizer an dieser WM Tempospieler wie Christian Fassnacht von YB, Renato Steffen von Wolfsburg oder Michael Frey gehört hätten. Die drei hätten fast mit Garantie bei der Hymne mitgesungen. Und den leicht verrückten absoluten Willen zum Sieg, die «Rage de vaincre», mit ins Team getragen.