Torhüter haben alle eine Macke und sind immer Archetypen. In früheren Zeiten gab es etwa den Typus des bösen Goalies, der von Figuren wie José Luis Chilavert aus Paraguay oder Oliver Kahn aus Deutschland verkörpert wurde. Böse Goalies liessen zuweilen selbst ihre eigenen Mitspieler erzittern. Mit ihrer Aura des unzerstörbaren Bösewichts kaschierten sie aber auch eigene Unzulänglichkeiten.
Neben dem bösen Goalie gab und gibt es den Archetypus des hageren Riesen. Zu ihnen gehörte etwa der Holländer Edwin van der Sar, von dem die Fussballwelt lange glaubte, er sei so gross, dass er ohne aufzuspringen jede Flanke vom Himmel pflücken könne. Erst als er einmal in einem Champions-League-Final vom 30 Zentimeter kleineren Lionel Messi per Kopfball bezwungen wurde, verlor er seinen Nimbus.
Ein dritter Goalie-Archetypus ist derjenige des Spassvogels. Solcherart waren Torhüter wie der unvergessene René Higuita aus Kolumbien, der mit zirkusreifen Einlagen die eigenen und mit unnötigen Dribblings die gegnerischen Fans zum Lachen bringen konnte.
Der vielleicht aussergewöhnlichste Goalie der Gegenwart
Der Schweizer Nationalgoalie Yann Sommer, der seit vier Jahren erfolgreich in der Bundesliga bei Borussia Mönchengladbach spielt, ist keiner der erwähnten Kategorien zuzuordnen. Man darf wohl behaupten, Yann Sommer sei überhaupt kein Archetypus, sondern ein ganz normaler Typ, ohne besondere Auffälligkeiten. Doch irgendwann in ferner Zukunft werden wir auf die Karriere von Yann Sommer zurückblicken und verstehen, dass er zu den Begründern eines neuen Goalie-Typus’ zählt: Dass er so gewöhnlich ist, macht Yann Sommer zum vielleicht aussergewöhnlichsten Goalie der Gegenwart.
Wer ihm begegnet, begegnet nicht einem abgehobenen Star, sondern einem selbstbewussten, aber äusserst höflichen, normalen jungen Mann, der normal grüsst, sein Gegenüber normal behandelt und dabei gleichzeitig ein guter Zuhörer und ein kurzweiliger Erzähler ist.
Eines wird im Gespräch mit Yann Sommer bald klar: Er ist weder Bösewicht noch Riese, weder Spassvogel noch Entertainer. Er bereichert die Torhüterposition um die Dimension der Sozialkompetenz. Der ehemalige Meistergoalie des FC Basel sieht sich als Teil einer Mannschaft. Was auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist im Grunde eine völlig neue Erweiterung seines Berufsbilds. Frühere Goalies konnten lustig oder ernst, klein oder gross, hager oder kräftig sein, aber im unerschütterlichen Glauben, dass der Goalie sich von allen anderen Spielern einer Fussballmannschaft deutlich unterscheidet, waren sich alle einig. Für frühere Torhüter galt die Devise: Ihr seid die Fussballer, ich bin der Goalie.
Yann Sommer: «Ich bin nicht der Goalie, der die Verteidiger anbrüllt»
Yann Sommer dagegen möchte einer von elf sein. Es tue ihm gut, neben dem spezifischen Goalie-Training auch mit den Feldspielern zu trainieren. Dadurch erlebe er auch Situationen, die man im Tor normalerweise nicht erlebt, etwa wie es sich anfühlt, wenn man noch einen Gegenspieler im Rücken hat. Klar, trage der Goalie ein anderes Dress als die Teamkollegen, stehe aber dennoch innerhalb des Teams. «Ich bin sehr im Spiel integriert, will auch Anspielstation sein und liebe es, eine aktive Rolle zu spielen, rauszukommen, mich immer einzubringen.»
Dass dies keine dahergesagten Floskeln sind, spürt, wer ihn über seine Kommunikation auf dem Platz reden hört. «Ich bin nicht der Goalie, der die Verteidiger anbrüllt oder einzelne Teamkollegen zusammenstaucht, wenn ein Fehler passiert ist. Das bringt niemandem etwas. Lieber mache ich die Mitspieler auf Dinge aufmerksam, die ich von meiner Position aus besser sehen kann. Kommunikation auf dem Platz ist wichtig, aber sie sollte konstruktiv sein.» Ganz ähnlich spricht er, wenn man ihn auf seine Rolle als Dienstältester der vier Schweizer Profis bei Mönchengladbach anspricht. «Mich dünkt es eine Selbstverständlichkeit, dass man als erfahrener Spieler jungen Landsleuten wie Denis Zakaria beim Einleben hilft.»
Auch als er auf die Situation seines ehemaligen Nationalteam-Kollegen Marco Wölfli bei YB angesprochen wird, zeigt sich, dass der Ex-Basler über den eigenen Garten hinaus denkt und fühlt: «Das mit Marco hat mich sehr gefreut für ihn, wie er nach den Jahren als Nummer 2 jetzt zurückgekommen ist und diesen Titel gewonnen hat, das ist ihm wirklich zu gönnen!»
Yann Sommer kommt am 17. Dezember 1988 in Morges am Genfersee zur Welt. Ein kleines bisschen Frankofonie nimmt er mit, als er mit drei Jahren mit seiner Familie in die Deutschschweiz zieht. 2003 kommt er zum FC Basel, wo er alle Jugendstufen durchläuft. Sein U21-Trainer beim FCB, der Schweizer Rekord-Internationale Heinz Herrmann, nimmt ihn mit zum FC Vaduz. Mit den Liechtensteinern steigt Sommer als Stammgoalie in seiner ersten Saison in die Super League auf. Nach eineinhalb erfolgreichen Saisons im Ländle holte ihn sein Stammklub für einige Spiele ins Joggeli zurück, danach wird er an GC ausgeliehen. Im Sommer 2010 kommt er definitiv beim FCB an.
Im Schatten von Diego Benaglio
Nach einer Saison als Nummer 2 ersetzt er beim Serienmeister den langjährigen Stammgoalie Franco Costanzo. Insgesamt gewinnt Yann Sommer mit den Rotblauen vier Meistertitel und zwei Mal den Cup. Im Sommer 2014 wagt er den Sprung in die Bundesliga zu Borussia Mönchengladbach, wo er sich sofort den Stammplatz sichert, den er dort seit mittlerweile vier Saisons innehat.
Als Nationalgoalie steht Yann Sommer einige Jahre im Schatten von Diego Benaglio. Doch seine Entwicklung verläuft immer linear, wie es zu seinem ausgeglichenen Charakter passt. Sommer nimmt Stufe um Stufe, und als er an der Europameisterschaft 2016 erstmals an einem grossen Turnier als Nummer 1 für die Nationalmannschaft nominiert wird, kommt es der Schweizer Öffentlichkeit vor, als hätte es nie einen anderen Schweizer Nationalgoalie gegeben. Selten war ein Goalie der Nationalmannschaft so unbestritten wie Yann Sommer, auch wenn er selbst das nie so formulieren würde.
Nun folgt in Russland ein Karrierehöhepunkt. Aber wie kann man nach einer harten Bundesliga-Saison fast ohne Pause sein Pensum durchziehen für die WM? «Ich bin mega motiviert für diese Weltmeisterschaft. Man muss niemandem erklären, dass eine WM etwas vom Grössten ist, was ein Fussballer erleben kann. Ich freue mich nicht auf einen besonderen Gegner, sondern auf das Gesamtpaket, auf die Euphorie, die wir zu Hause hoffentlich auslösen können.»
Heute Abend spielt die Schweizer Nationalmannschaft im letzten Spiel der Vorrunde um 20 Uhr gegen Costa Rica.