Pünktlich auf die Minute erscheint Heiko Nieder für die Aufnahme des Titelbildes im Fotostudio: Jeans, weisse Reebok-Turnschuhe, kariertes Hemd, rote Daunenjacke. Nur wenige Minuten später ist aus dem lockeren Mann mit dem akkuraten Haarschnitt ein scheinbar ganz anderer geworden: perfekt gebügelte, Ariel-weiss strahlende Kochbluse, Ärmel hochgekrempelt, graue Arbeitshose – das ist Heiko Nieder, der Koch, der GaultMillau-«Koch des Jahres 2019».
Es gibt zwei Heiko Nieder. Den einen kennt heute fast jeder, der in der Schweiz gern gut isst. Jenen Heiko Nieder, der seit zehn Jahren für «The Restaurant» verantwortlich ist, das Fine-Dining-Lokal im «The Dolder Grand», dem Zürcher Stadthotel mit Mut zur kompromisslosen Grösse. Hier hat Nieder eine unverwechselbare kulinarische Handschrift entwickelt: mit Gerichten, die gleichzeitig überraschend und präzise sind – als würden Nanotechnologen mit Hippie-Vergangenheit in der Küche stehen.
Aber es gibt eben nicht nur den perfektionistischen Teller-Architekten Nieder, der Gerichte errichtet wie sorgfältig geplante Prachtbauten. Zum Beispiel Rehrücken mit Gartenkräutern und Angostura. Oder Hummer mit Erdbeeren und Estragon – zwei Signature Dishes des 46-jährigen gebürtigen Hamburgers. Der andere, der Jeans-und-Turnschuhe-Heiko, ist ein entspannter, liebevoller Familienvater, der samstags seiner Frau und den beiden Töchtern ihr Lieblingsessen zubereitet: Backhendl mit Kartoffel-Gurken-Salat.
«Heiko kann nicht einfach kochen», sagt Daniela, mit der er seit 2009 verheiratet ist. «Klar kann ich einfach kochen», entgegnet er, «aber einfach ist nicht einfach.» Die Pouletschenkel hat Nieder entbeint und für 24 Stunden in Crème fraîche, Rahm, Knoblauch, Salz und Petersilie mariniert.
Einfach ist nicht einfach
Nun steht er in der lichten Bulthaup-Küche der kleinen, aber reduziert-elegant eingerichteten Doppelhaushälfte der Familie im Zürcher Oberland und wendet das Fleisch erst in Mehl, dann in Ei mit leicht geschlagenem Rahm und schliesslich in Paniermehl. Knusprig gebacken werden die Hendl in geklärter Butter – ein Spitzenkoch bleibt anspruchsvoll. Der Kartoffelsalat wird über einem Wasserbad leicht erwärmt und mit Essiggurkenwasser und Nussbutter abgeschmeckt.
Das Mittagessen beginnt, sobald die beiden Töchter Amelie, 5, und Lisa, 7, aus Kindergarten und Primarschule heimgekehrt sind. «Heiko hat zwei Leidenschaften», sagt seine Frau, «das Kochen und seine Familie.» Viermal täglich fährt der Familienvater zwischen dem Haus und dem Restaurant hin und her. Nach dem Mittagessen holt er um 15 Uhr seine Töchter ab. Und wenn Daniela Nieder, die 60 Prozent als Projektmanagerin bei der Swisscom arbeitet, nach Hause kommt, fährt er wieder Richtung Abendservice.
Das Leben der Nieders ist minutiös geplant und eng getaktet, aber es scheint für alle aufzugehen. Sie sagt: «Ich bin stolz auf ihn. Als Koch des Jahres erfüllt sich für Heiko ein Lebenstraum.» Er sagt: «Im Restaurant habe ich genug Stress. Zu Hause muss ich dann nicht noch Diskussionen führen, weil ich spät von der Arbeit komme oder nie da bin.» Der Sonntag gehört der Familie, «auch wenn mir manchmal die Augen zufallen, wenn ich am Boden sitze und mit den Mädchen spiele», gibt Nieder zu.
Szenenwechsel, eine ganz andere Welt. Statt Familienfrieden und Land-Idylle Weltläufigkeit und Luxus: «The Restaurant» gehört zu den schönsten Speisesälen der Schweiz, man sitzt in roten Plüschsesseln, schaut über die Stadt Zürich, den See bis in die Glarner Alpen. Die Wände sind mit Blattsilber tapeziert, dazwischen hängen Gemälde von Hodler, Dalí und Gerhard Richter.
Unrasiert muss kein Mann zur Arbeit erscheinen
Tritt man durch die automatische Türe in den Küchenbereich, wechselt die emotionale Raumtemperatur von lustvoll entspannt auf Konzentration, Disziplin und Ordnung. Eine Spitzenküche wie die von Heiko Nieder ist kein Ponyhof. Unrasiert muss kein Mann zur Arbeit erscheinen, und Fehler werden beim ersten und zweiten Mal noch mit einer Ermahnung geahndet, aber beim dritten Mal kann der eben noch ruhige, freundliche Heiko Nieder deutlich und streng werden.
Sitzt der erste Gast im Restaurant, steigt das Konzentrationslevel nochmals an. Jetzt gilt Null-Fehler-Toleranz, Nieder sieht jeden noch so kleinen Gel-Tupfer am falschen Ort auf dem Teller. Gerichte wie das Reh mit Gartenkräutern werden in ziselierter Feinarbeit arrangiert, dass man sich in der Werkstatt eines Uhrmachers wähnt und weniger in einer Küche, wo es auch einmal heiss und laut werden kann.
Seinen mittlerweile unverkennbaren Stil hat Heiko Nieder in den letzten zehn Jahren im «Dolder» entwickelt. «Davor habe ich nie mit einer Pinzette angerichtet. Aber hier habe ich gemerkt, dass der Inhalt des Tellers zum Rest des Hauses passen muss. Der Gast soll spüren, dass sich jemand nicht nur beim Einrichten des Restaurants Mühe gegeben hat, sondern auch beim Anrichten der Gerichte.»
Weil ich so gerne esse
Trotz Pinzette und Perfektion – Heiko Nieder ist Koch geworden, «weil ich so gerne esse». Wenn der Kindergarten jeweils geschlossen war, hat ihn seine Grossmutter mit zur Arbeit genommen. Sie war Köchin in der Kantine einer Grossmetzgerei.
Heute sagt Nieder: «Im Grunde möchte ich mit jedem Gericht mich selber erfreuen. Ich entdecke etwas, das mich begeistert. Und diese Begeisterung will ich weitergeben. Das kann dann zum Beispiel etwas Banane zum Fisch sein. «Für uns mag das vielleicht ungewöhnlich klingen, aber in Afrika ist das möglicherweise eine ganz alltägliche Kombination», erklärt der Küchenchef seine Denkart.
Ob «Koch des Jahres» oder Vater und Ehemann: Leidenschaft und Disziplin gleichzeitig, inneres Feuer und grosse Neugier zeichnen Heiko Nieder in jeder seiner anspruchsvollen Rollen aus.