Am Flughafen Zürich passiert er die Sicherheitsschranke, die Jeans bis zum Bauchnabel hochgezogen, in der Hemdtasche Pass und Kamm. «Piiiiep» – verdutzt dreht sich Heinrich Villiger um. «Eine Stichproben-Kontrolle», beruhigt der Beamte und nutzt die Gelegenheit: «Herr Villiger, händ Si ihri erschti Zigarre scho gha?» Villiger winkt ab. Aber in sein faltiges Gesicht klettert Freude – darüber, dass man ihn erkannt hat.
Früher rauchte Heinrich Villiger über zehn Zigarren pro Tag, heute sind es höchstens drei. Manche Dinge ändern sich. Im Mai wird Villiger 88, seit 68 Jahren arbeitet er in seiner Zigarrenfabrik mit Sitz in Pfeffikon LU. Mehrmals hat er versucht, seine Nachfolge zu regeln – vergeblich. Manche Dinge ändern sich nie.
«Das lohnt sich nicht mehr»
Andere in Villigers Alter klagen über Schlafstörungen, gaumen Enkelkinder und sagen immer öfter: «Das lohnt sich nicht mehr.» Heinrich Villiger schläft «wie ein Stock», arbeitet noch immer fast zehn Stunden am Tag, kämpft unermüdlich für eine Branche, die unter Dauerbeschuss steht. Was treibt ihn an, diesen Mann, der so langsam abzubrennen scheint wie eine Zigarre?
Die Tabak-Familie. Sao Gonçalo dos Campos, ein Dorf im Osten Brasiliens, 24 Stunden nach der Szene am Flughafen Zürich. Im Büro der Tabakmanufaktur Ermor Tabarama klebt kalter Rauch an den Wänden. Villiger zündet eine Zigarre an, rutscht tiefer ins Ledersofa, auf dem Gesicht ein entspanntes Lächeln.
Seit mehr als einem halben Jahrhundert kauft er Tabak in Brasilien – und lässt es sich bis heute nicht nehmen, einmal pro Jahr persönlich beim Produzenten vorbeizuschauen. Die Beziehungen unter den Tabak-Menschen sind eng, Verträge werden per Handschlag besiegelt. In der Branche hat Villiger den Status eines Papstes. Selbst sein Tabakeinkäufer, Karlheinz Diekmann, den er vor 18 Jahren eingestellt hat, ist mit ihm per Sie. Aber Villiger ist nicht abgehoben. «Er spricht mit dem Bundesrat genau gleich wie mit der Putzfrau», sagt Diekmann.
Niemand wollte in die Firma einsteigen
Die Pflicht. Heinrich Villiger ist ein Patron alter Schule. Er hat eine klare Meinung, hält Wort, und er fragt seine Untergebenen, wenn er in ihr Büro tritt: «Ich hoffe, ich störe Sie nicht?» Schon früh hat er gelernt: Ein Mann muss dort ausharren, wohin die Pflicht ihn gestellt hat. Sein Vater holt ihn direkt nach der Matura in den Familienbetrieb. Der junge Heinrich hat keine Wahl, obwohl ihm ein Studium lieber gewesen wäre. Als der Vater stirbt, übernehmen er und sein jüngerer Bruder Kaspar die Zigarrenfabrik. Ab 1989, als Kaspar Bundesrat wird, ist Heinrich alleiniger Chef.
Seine eigenen Kinder – drei Töchter und ein Sohn – hatten die Wahl. Aber niemand wollte in die Firma einsteigen. «Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ich Weggli verkauft hätte», sagt Villiger. «Ich selbst hätte ja mehr Druck gemacht, aber meine Frau war dagegen. Und weil ich keinen Streit mit ihr wollte, ist es jetzt, wie es ist.»
Die Leidenschaft. Im Probierzimmer machen Villiger und Diekmann die Probe aufs Exempel. Sie streichen die Tabakblätter glatt wie Alufolie, damit Risse und Flecken sichtbar werden. Dann stecken sie ihre Nasen tief in die Blätter. Der brasilianische Tabak gilt als süss, sanft und doch würzig – «wie die Frauen hier», sagt Villiger hinter vorgehaltener Hand. Dann ruft er: «Schön! Ein wirklich schöner Tabak!» Sein zerbrechlicher Körper gewinnt vor Begeisterung unweigerlich an Kraft. «Sie müssen den Tabak leben», sagt er, «sonst sind Sie falsch in der Branche.»
«Ich war ihr zu stur»
2016 hat Heinrich Villiger seine Zigarrenfabrik in die Hände eines CEOs gelegt. Robert Suter war Nichtraucher. «Der Falsche für diesen Job», sagt Villiger. Ende 2017 hat er Suter wieder weggeschickt. «Ich hätte es besser wissen müssen.»
Meistens weiss er es besser. Das hat auch seine älteste Tochter Corina, 58, merken müssen. Zweimal sass die Ärztin im Verwaltungsrat der Firma, zweimal lief sie davon. «Ich war ihr zu stur», sagt der Patron, «aber was kann ich dafür, wenn ich immer recht habe?» Seit einem halben Jahr ist Corina erneut im Verwaltungsrat. Villiger sagt, das freue ihn «enorm».
Der Kampfgeist. Dritter Tag in Sao Gonçalo dos Campos, wie gemalt erheben sich die Gebäude in der Nachmittagshitze aus üppigem Grün. Heute eröffnet Villiger hier eine eigene kleine Zigarrenmanufaktur: die Villiger do Brasil. Sechs Arbeiterinnen stellen sogenannte Premium-Zigarren her, gefertigt aus den Blatthälften hochwertiger Tabake. Ein Luxusprodukt!
Wie lange macht er das noch?
Villiger hat eine kleine Rede vorbereitet, Kugelschreiber auf Papier. «Ich spreche nicht so gerne vor anderen Leuten.» Seine Hände zittern, das weisse Haar klebt ihm feucht an der Stirn. Man fragt sich erstmals: Wie lange macht er das noch? Seine Antwort ist so simpel wie bezeichnend: «Solange es mich noch braucht.»
Tabakwaren sind kein einfaches Geschäft. Rauchfreie Beizen, rauchfreie Bahnhöfe und am Ende die rauchfreie Gesellschaft – die Weltgesundheitsorganisation WHO hat ein klares Ziel. Der Tabak werde «regelrecht verdammt», sagt Villiger später an diesem Tag bei einem Glas Rotwein in einer Churrascaria, wo ein Heer von Kellnern mit Fleischspiessen um die Tische marschiert. Sein Unternehmen feiert dieses Jahr das 130-Jahr-Jubiläum. Es setzt 230 Millionen Franken um und beschäftigt weltweit rund 1600 Mitarbeiter. «Da hat man doch auch eine Verantwortung!» Für Villiger geht der Trend von der Prävention zur Prohibition, und das findet er schlecht. Er wehre sich nicht gegen Jugendschutz – «aber gegen die vielen Verbote!»
Seit 60 Jahren verheiratet
Der Lebensdurst. Heinrich Villiger ist ein Mann der Freiheit. Er mag grosse Autos und schnelle Töffs. Er hat weder Computer noch Handy. Er ist seit 60 Jahren verheiratet – und schaut noch immer schönen Frauen nach. Und er verweigert einen Herzschrittmacher, obwohl ihm der Arzt dazu geraten hat. «Mit einem Herzschrittmacher stirbt man ja nicht. Und wenn doch, läuft er einfach weiter.»
Was passiert mit seiner Firma, wenn er einst nicht mehr ist? «Ich habe drei Chefs: einen fürs Marketing, einen für die Finanzen und einen für die Technik – die machen das.» Und seine Tochter Corina werde als Verwaltungsrätin dafür sorgen, dass das Unternehmen in der Familie bleibt.
Villiger steht auf, er hat nicht viel gegessen vom Fleisch am Spiess, «das Alter», sagt er. Im Aschenbecher ist noch das letzte Drittel seiner Zigarre übrig. Nur ja nicht ausdrücken, jetzt. Fast flüsternd sagt Villiger: «Eine Zigarre muss in Würde sterben.»