Es ist eine Reise voller Emotionen. Als der neue FDP-Bundesrat Ignazio Cassis, 56, am Berner Bahnhof zusammen mit seiner Frau Paola, 54, und anderen Parlamentariern in den Salon-de-Luxe-Wagen steigt, ertönt die Abfahrtszeit auf Italienisch. «Ich freue mich wahnsinnig», sagt ein strahlender Cassis und herzt seine Parteipräsidentin Petra Gössi, 41. Für sie ist die Zugfahrt ins Tessin ebenfalls eine Reise zu ihren Wurzeln. «Meine Mutter kommt aus Airolo!»
Nachdem Cassis mit Nochbundesrat Didier Burkhalter, 57, und dessen Frau Friedrun Sabine, 50, mit einem Ticinello Rosso angestossen haben, macht der Sonderzug einen ersten Halt in Altdorf UR. Auch auf dieser Seite des Gotthards strahlt heute die Sonne. Cassis steigt aus, hält seiner Frau die Hand. Schulkinder schwingen Urner- und Tessinerfahnen, rufen «Ignazio, Ignazio» – und dann «Forza Ambri!».
Cassis streckt die Arme gegen den blauen Himmel, klatscht in die Hände und erinnert so fast schon an einen US-Präsidenten. Kein Wunder also lehnt er sich danach in seiner Ansprache an die berühmte Rede von John F. Kennedy an, als er sagt: «Ich bin ein Urner!»
Das Tessin ist mehr als die Sonnenstube der Schweiz – es ist die Schweiz
Cassis sieht sich als Brückenbauer, betont, dass er das Land noch stärker zusammenschweissen will. An diesem Tag ist er aber vor allem Cassis, der Tessiner. Zum ersten Mal seit fast 20 Jahren stellt der Südkanton wieder einen Bundesrat. Dorthin geht es in rasanter Fahrt, dem neuen Gotthard-Basistunnel sei Dank. Am Bahnhof Bellinzona hat man Cassis den roten Teppich ausgerollt, fünf Blasmusiken aus der Region spielen «Noi siamo Ticinese – wir sind Tessiner». «Das Tessin ist mehr als die Sonnenstube der Schweiz – es ist die Schweiz», sagt Stadtpräsident Mario Branda in seiner Ansprache.
Danach läuft Cassis unter dem Jubel der Einheimischen durch die pittoreske Altstadt von Bellinzona. «Ha visto Cassis? – hast du Cassis gesehen?», rufen die Kinder. Und zwei ältere Damen am Strassenrand tuscheln. «Molto simpatico – so sympathisch!» Der neu gewählte Bundesrat fühlt sich sichtlich wohl, er verteilt Küsschen, macht Selfies, drückt alte Bekannte und winkt in die Menge. Auch seine bisher eher zurückhaltende Frau Paola, scheint sich im eleganten schwarz-beigen Kostüm mit ihrer Rolle als First Lady anzufreunden. «Es ist schön zu sehen, wie mein Mann gefeiert wird. Ich geniesse das mit ihm!»
Auf dem Regierungsplatz wartet Ignazio Cassis' Mamma Mariarosa, 83, im Rollstuhl auf ihren figlio, begleitet von seinen drei Schwestern Manuela, Christine und Mirna. UBS-Chef Sergio Ermotti, 57, ein Nachbar von Cassis in dessen Wohnort Montagnola bei Lugano, ist in Feierlaune. «Cassis ist der richtige Mann für unser Land.» So traue er ihm etwa zu die teilweise «schwierigen Beziehungen mit Italien zu entspannen.» SVP-Mann und ehemaliger Bundesratskandidat Thomas Aeschi, 38, zeigt sich beeindruckt vom Publikumsaufmarsch. «Man sieht, wie viel dem Tessin die Wahl von Cassis bedeutet». FDP-Kollege Christian Wasserfallen, 36, schwelgt derweil in Kindheitserinnerungen an das Kletterlager im Maggiatal. «Es hat zwar immer geregnet – aber schön wars trotzdem!»
Mamma Cassis ist stolz auf ihren Ignazio
Ein besonderer Überraschungsgast ist Flavio Cotti, 77, den Cassis herzlich umarmt. Der betagte alt Bundesrat ist glücklich. «Es war endlich an der Zeit, dass die italienische Schweiz wieder in der Landesregierung vertreten ist!» Auch Cassis selbst betont in seiner dreisprachigen Rede, wie wichtig der nationale Zusammenhalt ist. «Die Schweiz ist jetzt stärker!» Seine Mutter Mariarosa sitzt unten am Redner-Podest und schickt ihrem Sohn eine Kusshand. «Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass mein Bub Bundesrat wird. Ich bin so stolz!», sagt sie danach mit Tränen in den Augen.
Am Abend feiern die Parlamentarier ihren neuen Bundesrat in der Sporthalle von Bellinzona. Es gibt Salat mit Forelle, Kalbsbraten an einer Weinsauce aus dem Tessin und Kastanientiramisu, dazu fliesst Tessiner Merlot. Für den Lacher des Abends sorgt Nationalratspräsident Jürg Stahl mit seiner Ansprache. «Gewählt ist mit 125 Stimmen – Iiniiaazioo!» Die Parlamentarier haben am vergangenen Mittwoch noch darüber gewitzelt, dass der SVP-ler den Namen Ignazio immer falsch ausgesprochen hat – indem er das «g» betonte. Cassis springt auf die Bühne und dankt seinem Ratskollegen. «Dass du extra für mich einen Schulkurs gemacht hast, ist grossartig!“ Und Stahl spricht das aus, was wohl an diesem Tag viele gedacht haben: «Es ist unmöglich, Ignazio nicht zu mögen!»