6.30 Uhr: Der Gang im Dunkeln zum Bundeshaus
Vor dem Bundeshaus ist es noch dunkel, ein Tross von Journalisten wartet. Als erstes kommt Isabelle Moret, 46, um die Ecke. «Es geht mir gut, ich kann jetzt nichts mehr ausrichten.» Ihren Abend vor der Wahl hat sie mit Parteifreunden verbracht – «und einem Glas Pinot Noir.» Dann schreitet der junge Genfer Pierre Maudet, 39, zielstrebig über den Bundesplatz. Die Nervosität ist ihm anzusehen. Doch wo bleibt Favorit Ignazio Cassis, 56? Wie er der «Schweizer Illustrierten» verraten hat, schlafen er und seine Frau Paola, 54, in seiner kleinen Altbauwohnung im Berner Monbijou-Quartier. «Mir ist wichtig, dass meine Frau in der Nacht vor der Wahl bei mir ist. Sie ist meine Säule, gibt mir Kraft.»
7.05 Uhr: Der Rummel ist riesig
Ignazio Cassis läuft zu Fuss zum Bundeshaus. An seiner Seite: Paola. Er trägt einen dunkelblauen Anzug mit grauer Krawatte, sie hellblau gemusterte Hosen und Jacke. «Ich habe so gut wie immer geschlafen – wie ein Stein!», sagt Cassis. Ist er siegessicher? Cassis schüttelt er den Kopf. «Überhaupt nicht, es kann noch viel passieren.» Paola steht etwas abseits des Journalisten-Pulks. «Der Rummel um meinen Mann ist riesig. Und ich bin auch ziemlich nervös.»
7.37 Uhr: Die Schwestern sind gekommen
Während ihr Mann an die FDP-Fraktionssitzung eilt, trifft Paola Cassis auf dem Bundesplatz dessen drei Schwestern. Sie sind aus dem Tessin und aus Graubünden angereist. Christine Gerosa, 58, Manuela Caviezel, 57 und Mirna Cassis, 54, sind jetzt schon mächtig stolz auf ihren «Tato» – so nennen sie ihren Bruder seit Kindertagen. «Für uns ist er sowieso der grösste», sagt Christine. Manuela ist sich sicher: «Er wird das schaffen.»
8.12 Uhr: Ein erstes Lächeln
Das Parlament tagt, Cassis sitzt in der hintersten Reihe neben FDP-Präsidentin Petra Gössi. Von der Zuschauertribüne schaut Paola auf ihren Mann hinunter. Der sonst stets gut gelaunte Cassis wirkt angespannt. Erst als FDP-Bundesrat Didier Burkhalter mit warmem Applaus verabschiedet wird, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
8.55 Uhr: Die abwesende Nationalrätin
Jetzt gilt es ernst! Die Stimmenzähler bringen das Resultat des ersten Wahlgangs. Cassis führt mit 109 Stimmen, Maudet kann 62 Parlamentarier überzeugen, Moret 55. Insgesamt wurden nur 245 Stimmzettel verteilt – obwohl es insgesamt 246 National- und Ständeräte gibt. Sibel Arslan, die grüne Nationalrätin aus Basel, sass nicht an ihrem Platz. «Es hat mich sehr berührt, dass Didier Burkhalter den Bundesrat verlässt», sagt sie der SI später. «Seine Abschiedsrede habe ich deshalb ganz alleine für mich angehört.»
8.57 Uhr: Die ersten Gratulanten
Es braucht einen zweiten Wahlgang. Doch alle tun so, wie wenn die Wahl schon entschieden wäre. Ex-BDP-Chef Hans Grunder klopft Cassis aufmunternd auf die Schulter – obwohl sich seine Partei am Vortag noch für Pierre Maudet ausgesprochen hat. SP-Chef Christian Levrat schüttelt dem FDP-Favoriten die Hand – obwohl dieser den Linken eigentlich zu bürgerlich ist. Cassis wirkt nun viel entspannter.
9.15 Uhr: Gewählt ist!
Nationalratspräsident Jürg Stahl läutetet die Glocke. «Gewählt ist mit 135 Stimmen: Ignazio Cassis!» Dieser springt vor Erleichterung auf, umarmt seine Präsidentin Petra Gössi. Auf der Tribüne nimmt Paola Cassis ihre Schwägerinnen in die Arme. Der frisch gewählte Bundesrat zieht zwei Zettel aus seinem Jackett, tritt ans Rednerpult und schaut als erstes hoch zu seiner Frau. Er verspricht ihr, auch als Bundesrat der gleiche zu bleiben. Dann zitiert er zur Freude der Linken im Saal die Kommunistin Rosa Luxemburg: «Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.» Präsident Jürg Stahl liest den Eid vor – auf Deutsch. Doch Cassis schwört selbstverständlich auf Italienisch: «Lo giuro!» Der Saal lacht. Am Schluss gibt’s für Cassis ein Präsent: Eine Flasche Cassissirup!
10.00 Uhr: Schokolade mit dem Bild von Cassis
Jetzt gibt’s was zu trinken! Selten haben sich die Parlamentarier so auf einen Bundesratsapéro gefreut: Salame, Proscuitto Crudo und Tessiner Merlot. Es hat sogar Schokolade mit dem Konterfei von Iganzio Cassis! FDP-Ständerat Andrea Caroni meint: «Die muss ich meinen Kindern mitbringen!» Er ist in Feierlaune: «Ich war schon immer ein grosser Fan von Ignazio. Ein toller Mensch und Politiker.» Aber für die Ehe könne das Amt eine Belastung sein. «Stellen sie sich vor, dass ihr Mann plötzlich Bundesrat wird! Wie wollen Sie da noch normal leben?»
10.41 Uhr: Der enttäuschte Maudet
Pierre Maudet schleicht sich an der Journalisten-Meute vorbei, die auf den frischgewählten Bundesrat wartet. Er wirkt enttäuscht – auch wenn er das nicht zugeben will: «Sehe ich so aus?» Dann fügt er trotzdem hinzu: «Ja klar: Ich wäre gerne Bundesrat geworden.»
10.45 Uhr: «Tanti Auguri»
Ignazio Superstar! Flankiert vom Blasorchester Bandella del Malcantone, das «Tanti Auguri» spielt, steigt Ignazio Cassis im Bundeshauses die Treppe zu den drei Eidgenossen hinunter. Er steht still, breitet die Arme aus und winkt. Dann drückt er seiner Frau Paola einen Kuss auf die Wange und herzt seine drei Schwestern.
11.23 Uhr: Stimmung wie bei einem Hockeymatch
Auf dem Bundesplatz lässt sich der neue Bundesrat zusammen mit seiner Frau von rund 100 angereisten Tessinern feiern. Mit roten und blauen Ballonen sind sie nach Bern gekommen. Es klingt wie an einem Hockeymatch im Tessin: «Ole Ole Ole, Ignazi, Ole!» Der Tenor ist klar: «Endlich ist die Italianità zurück in der Landesregierung!» Stolz auf ihren «Tato» sind auch die Schwestern. «Es ist grossartig, einen Bruder zu haben, der es bis in den Bundesrat geschafft hat», sagt Manuela Caviezel. Er sei ein toller Bruder, meint die jüngste Schwester Mirna Cassis. «Wenn wir ihn brauchten, war er immer für uns da. Das wird auch als Bundesrat so bleiben.»
12.30 Uhr: «Hören Sie doch einmal auf damit»
Jetzt steht Cassis den Journalisten Red und Antwort. Und macht gleich bei seiner ersten Medienkonferenz klar, dass er einen anderen Ton als seine sechs Kollegen anschlägt: Er spricht auf Italienisch – und die meisten Journalisten verstehen nur Brocken wie «Verantwortung», «Sprachregionen», «Zauberformel». Als ein NZZ-Journalist fragt, welche Sichtweise er als Tessiner in den Bundesrat einbringen könne, zeigt dieser erstmals im neuen Amt seine Zähne: «Hören Sie doch einmal auf damit. Ueli Maurer fragen Sie auch nicht, wie er die Deutschschweiz in den Bundesrat einbringt.»
14.10 Uhr: Cassis sucht seine Frau Paola
Die FDP feiert ihren Sieg! Im edlen «Empire-Saal» des Restaurants «Äusserer Stand» mit grüner Tapete und Parkett dankt Cassis seinen Konkurrenten Maudet und Moret für den freundschaftlichen Umgang während des Wahlkampfes: «Wir sind alle froh, dass dieser Marathon nun vorbei ist.» Dann sucht er seine Frau: «Paola, wo bist Du?» Und meint: «Sie hält sich immer etwas im Hintergrund, weil sie Menschenmassen nicht mag.» Endlich hebt Cassis sein Glas und prostet seinen Parteikollegen zu: «Sie müssen nun zurück ins Parlament!» Auf Cassis selbst wartet bald ein eigenes Büro im Bundeshaus.