Val Müstair, Ende März, die Schweizer Langlaufmeisterschaften sind in vollem Gange. Auch der 27-jährige Jonas Baumann, hinter Superstar Dario Cologna einer der besten Schweizer Langläufer, ist am Start. In Gedanken aber ist er ganz woanders. Der Startschuss fällt, die ersten Runden sind hart und mühsam für ihn.
Die Beine wollen nicht, der Kopf hat von Anfang an nicht mitgemacht. Nichts konnte ihn anspornen. «Ich habe mich ständig gefragt: Was mache ich eigentlich hier? Ich hatte null Freude.» Seine Stimme stockt, als er davon erzählt. Baumann zieht die Ski aus – und gibt zum ersten Mal in seinem Leben ein Rennen auf. «Das war der Tiefpunkt», dachte er, nicht ahnend, dass er noch tiefer fallen würde. Durch eine Erschöpfungsdepression, ein Burn-out.
Bereits mitten in der Saison hat Baumann gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Anfang Januar, Tour de Ski: Der Bündner läuft auf den 21. Rang. Ein ordentliches Resultat. «Obwohl ich total unkonzentriert war. Erstaunlich, wie lange der Körper mitmacht, obwohl der Kopf nicht bei der Sache ist.» Danach wird es richtig hart. Baumann hat Prüfungsstress, muss Arbeiten schreiben für sein Sportmanagement-Studium an der HTW in Chur. Er will überall brillieren, sein extremer Ehrgeiz lässt nichts anderes zu.
«Wenn ich mal abschalten wollte, konnte ich nicht. Ich war rastlos, meine Gedanken kreisten, ich konnte schlecht schlafen, war permanent unter Stress.» Seine langjährige Freundin Jessica, mit der er in Davos wohnt, merkt schnell, dass es ihm nicht gut geht. Sie rät ihm, die Saison abzubrechen: «Du bisch dure!» Er ignoriert ihren Rat, trainiert weiter, denkt: «Bald ist die Saison zu Ende, dann kann ich durchatmen.» Die Schlafprobleme bekämpft er mit pflanzlichen Mitteln.
Ich wollte keine Schwäche zeigen, hatte Angst, mich dem Problem zu stellen
Die WM in Lahti läuft erstaunlich gut, im Skiathlon wird er 13., das beste WM-Resultat seiner Karriere. Doch er verspürt weder Freude über die Leistungen noch Frust über eine knapp verpasste Medaille mit der Staffel. Aus Rastlosigkeit ist Gleichgültigkeit geworden. «Ich war leer. Es war so schlimm, dass ich dachte: Zum Glück haben wir keine Medaille geholt – denn ich hätte mich zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht freuen können. Es ist verrückt: Du arbeitest das ganze Jahr auf ein Ziel hin, und plötzlich ist dir alles egal.»
Statt seine Gefühle oder eben ihre Abwesenheit jemandem aus dem Team anzuvertrauen, zieht er sich immer mehr zurück. Er erträgt kaum mehr Menschen um sich, weiss nicht mehr zu kommunizieren. «Ich wollte keine Schwäche zeigen, hatte Angst, mich dem Problem zu stellen. Und auch Bedenken, dass man mir nicht recht glaubt.» Schliesslich seien ja die meisten Athleten Ende Saison müde und etwas ausgelaugt.
Bei Baumann ist es mehr als die übliche Müdigkeit nach einer strengen Saison. Das merkt er am langersehnten Saisonende. Er zieht sich komplett zurück. Aus dem Sport – und auch ein bisschen aus dem Leben. «Es war eine sehr schwere Zeit.»
Einen Monat lang macht er keinen Sport. Normalerweise hält er das keine zwei Tage aus. Er verlässt kaum die Wohnung, Freunde vernachlässigt er. Dafür liest er viel. Krimis seiner Lieblingsautoren Peter James und Jo Nesbø, «wohl eine Flucht vor den Problemen in eine fiktive Welt». Auch in der realen Welt verreist er, allein, für ein paar Tage nach Malta. Auch dort mag er nicht viel unternehmen, ist antriebslos und fragt sich: «Wird es je wieder anders werden? Werde ich mich je wieder freuen können, je wieder Spass am Sport haben?»
Er begreift, dass seine Stimmung nicht einfach besser wird mit «ein bisschen Ruhe», wie viele sagten und er sich selber lange eingeredet hatte. Als er zurück in der Schweiz ist, ermutigt ihn seine Freundin noch einmal, sich Hilfe zu holen. Er ruft Verbandsarzt Patrik Noack an, dann Sportpsychologe Hanspeter Gubelmann, und schliesslich erzählt er es den Eltern. Die Gespräche kosten ihn grosse Überwindung. Doch sie sind der erste Schritt zur Besserung.
Die Gefühle wiedergefunden
Die Ursachen für den Erschöpfungszustand sind schnell gefunden: Zu viel Belastung in allen Bereichen, zu wenig Erholung. «Das auszehrende Training bei Ausdauersportlern ist ein Risikofaktor, der einen solch ausgebrannten Zustand, wie Jonas ihn erlebt hat, begünstigt», sagt Gubelmann. Da war die Sprunggelenksverletzung im Herbst, nach der sich Baumann die geplanten Ferien nicht gegönnt und stattdessen noch härter trainiert hatte. Da waren zwei Infekt-Krankheiten, die teils mit Antibiotika behandelt wurden, und ein Höhentrainingslager, das ihn zu viel Energie kostete.
Dazu kam Stress im Studium und der selbstauferlegte Druck, immer und überall Leistung zu zeigen. Bis Körper und Geist nicht mehr mitgemacht haben. «Doch Jonas hat noch im richtigen Moment die Notbremse gezogen», sagt Gubelmann, der ihn in Absprache mit dem Teamarzt an einen Spezialisten überweist, «weil das Problem nicht nur den Sport, sondern sein ganzes Leben betraf». Die regelmässigen Sitzungen mit dem Psychiater und die Unterstützung durch pflanzliche, stimmungsaufhellende Mittel zeigen schliesslich Wirkung.
Die Depression hatte Baumanns Feuer für den Sport für einen Moment ausgelöscht. Dabei tat er schon als kleiner Junge nichts anderes lieber, als stundenlang auf der Loipe seine Runden zu drehen. «Alle haben sich gefragt, wieso mir das nicht verleidet, doch ich liebte es. Das wurde mir wohl in die Wiege gelegt.» Er meint die Arbeitsmoral und die Faszination für den Langlaufsport. Er wächst zusammen mit vier Schwestern auf einem Bauernhof im 40-Seelen-Dorf Lohn GR auf, seine Eltern lernten sich beim Langlaufen kennen.
Baumann und seine Schwestern helfen auf dem Hof mit. Zuerst heuen und rechen, später Maschinen fahren, Feldarbeiten erledigen. «Unsere Eltern konnten jede helfende Hand gebrauchen.» Sportlich gehts Schritt für Schritt nach oben – und immer weiter weg von daheim: Er spielt in Thusis Fussball, Langlauf trainiert er ab sieben Jahren in Splügen. Im TV bewundert er Schweizer Spitzenlangläufer wie Gion Andrea Bundi oder Reto Burgermeister. Da weiss er: Das will ich auch! Mit 15 zieht er ins Internat nach Davos, besucht das Sport-Gymi.
Finanziell ist die Karriere für die Eltern zu dieser Zeit ein Kraftakt, trotzdem unterstützen sie ihn bedingungslos. Auch als er nach der Matura im Langlauf-Mekka Davos bleibt, um sein Hobby zum Beruf zu machen. Heute kann er dank Sponsoren und der 50-Prozent-Stelle als Sport-Zeitsoldat gut leben. «Ich bin dankbar, dass ich nicht mehr bitti-bätti machen muss.» Das Studium beginnt er 2015, weil er «nach der Karriere nicht mit leeren Händen dastehen will».
So weit ist es noch nicht. Baumanns Zeit in der Loipe ist noch lange nicht abgelaufen. «Ich kann mich wieder freuen und nerven», sagt er und lacht. In der Therapie hat er sich Strategien angeeignet, damit er nicht in dieselben Denk- und Verhaltensmuster zurückfällt. Ohne Rückfälle läuft das Sommertraining nicht. Doch er nimmt nun mehr Einfluss auf die Planung, hört auf seine Bedürfnisse und sagt im richtigen Moment «stopp».
Während seiner Krankheit ist ihm vieles bewusst geworden: «Im Sport und in der Gesellschaft geht es immer mehr nur um Leistung. Der Mensch dahinter geht vergessen.» Es gab kaum Rückmeldungen oder Leute, die fragten, wie es ihm gehe. «Das hat mich verletzt. Doch ich muss mich selber an der Nase nehmen. Ich war vorher selten einer, der bei anderen genauer nachgefragt hat.» Indem er offen über die Krankheit spricht, möchte er dazu beitragen, das Thema zu enttabuisieren, andere ermutigen, genauer hinzuschauen. «Das liegt mir am Herzen.»
Baumann hat seine sportlichen Ziele wieder im Visier: Zum Beispiel, eine Olympia-Medaille mit der Staffel zu gewinnen. Und ein Diplom in einem Einzelrennen. Und viel wichtiger als alle Resultate: Den Sport wieder in allen Facetten und Gefühlslagen zu spüren. Sich aufzuregen über fehlende Sekunden oder verlorene Zweikämpfe. Nach einem harten Training trotz brennenden Beinen eine innere Befriedigung zu spüren. Und sich am stundenlangen Rundenlaufen im Schnee zu erfreuen, wie er es seit Kindheit tut.