Brille, Bart, cooler Blick: Jonas Lüscher, 41, ist der Shootingstar unter den Literaten. Für die tragikomische Satire «Kraft» wurde er mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Die Begründung der Jury: Ihm sei ein «fulminanter Text gelungen, der durch seine erfrischende Bösartigkeit ebenso überzeugt wie durch die kluge Gegenüberstellung von Alter und Neuer Welt».
Schon mit «Frühling der Barbaren» brach Lüscher Tabus. Damals hängte er fürs Schreiben seine akademische Karriere an den Nagel. Diese wird auch Richard Kraft, Rhetorikprofessor aus Tübingen, zum Verhängnis. Lüschers Romanfigur reist ins Internet-Mekka Silicon Valley, um an einem wissenschaftlichen Wettbewerb teilzunehmen. Dem Gewinner winkt eine Million Dollar.
Nebst der Erkenntnis, welch «ausgedachte Hühnerkacke» er der Jury da auftischt, überschlagen sich die Ereignisse. Bei einer Ruderfahrt verliert er erst sein Handy, dann seine Würde. Sie endet nackt im Morast, wo sich «das Seegras um sein Gemächt wickelt und seinen Hodensack kitzelt». Jonas Lüscher, in Schlieren ZH geboren und in Bern aufgewachsen, empfängt uns zum Exklusiv-Interview im Verlag C.H. Beck in Schwabing in München. Dort ist man stolz auf den Schweizer, der mit seinem preisgekrönten Werk gerade dabei ist, die digitale Welt ironisch zu demontieren.
Jonas Lüscher, werden Sie sich mit dem Preisgeld von 30'000 Franken Internet-Aktien kaufen?
Nein, da möchte ich eigentlich nicht Teil von werden (lacht). Wie die meisten Autoren investiere ich die Summe ins nächste Buch.
«Kraft» ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Internet-Hype. Sollten wir kritischer sein gegenüber den Versprechen der Technologie?
Ja und nein. Das Paradoxe ist, dass wir als Konsumenten einerseits auf der digitalen Welle surfen und uns von neuen Gadgets verzaubern lassen, andererseits bei jedem Klick private Informationen liefern im Glauben, etwas vermeintlich Kostenloses zu bekommen. Dann herrscht aber auch eine grosse Skepsis gegenüber dem Netz. Die Idee des Internets als Demokratisierungsmaschine steht unter Beschuss. Da gibt es jetzt schon ganz grosse Enttäuschungen.
Ich habe mich von Facebook verabschiedet. Es war mir alles zu hysterisch
Sie arbeiteten neun Monate als Doktorand an der Stanford University in Kalifornien, lernten die Mentalität der Internet-Gurus kennen. Ihr Fazit?
Zwiespältig. Es gab Arten des Denkens, die mich irritierten, was auch ein Hauptauslöser für das Buch war. Der Wunsch, mit einer fantastischen Idee Big Business zu machen, und gleichzeitig die Welt retten zu wollen, geht nicht auf. Die intellektuelle Redlichkeit fällt zum Teil auf unverschämte Art und Weise unter den Tisch.
Inwiefern?
Diese abgeriegelte, teure, männlich dominierte Oase, in der die Meinung vorherrscht, sie sei der Nabel der Welt, gleicht einer riesigen Blase. Die Latinos, die längst aus dem Silicon Valley vertrieben wurden, fahren für eine Handvoll Dollar ans andere Ende der Bucht, um Apple-Gärten zu pflegen und Google-Büros zu putzen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass hier echte Problemanalyse betrieben oder die wesentlichen Fragen der Menschheit angegangen werden.
Warum scheitert Ihre Romanfigur Richard Kraft im Silicon Valley?
Für Nichtgläubige, und Kraft ist kein Gläubiger, sitzt der Mensch selber auf der Anklagebank: Er hat das Übel ja in die Welt gebracht. Dieser bis ins tiefste Mark erschütternden Frage stellt er sich. Das rechne ich ihm hoch an. Gleichzeitig erschrickt er, dass das, was er als Marktliberaler ideologisch immer vertreten und intellektuell verteidigt hat, im Silicon Valley längst Realität ist.
Ist seine pessimistische Grundhaltung nicht sehr europäisch?
Kraft unterstellt allem Digitalen eine Oberflächlichkeit, die in scharfem Kontrast zu den Tiefen des aufgeklärten Geistes steht. Im Silicon Valley pfeifen die Leute aber auf seine intellektuelle Redlichkeit. Das lässt seinen Verstand implodieren.
Die alten Gesetze der Internet-Ökonomie greifen nicht mehr. Braucht es nicht dringend neue Spielregeln?
Die Gesetzgebung hinkt dem technologischen Fortschritt hinterher. Dass in Demokratien, besonders in Amerika, viel zu viel Lobbying zugelassen wird, macht die Sache nicht einfacher. Die Macht der Internetkonzerne ist gigantisch, Strafverfolgung und Regulierung gibt es zu wenig, das hat man global-politisch verschlafen.
Ist eine Korrektur überhaupt noch möglich?
Kaum. Setzt ein Land strengere Vorgaben durch, wechselt das Unternehmen eben dorthin, wo die Gesetzgebungen liberaler sind.
Google beziehungsweise Alphabet, wie sich der Konzern neuerdings nennt, & Co. verdienen Billionen. Beherrschen bald einige wenige Unternehmen die Weltwirtschaft?
Den Werbemarkt beherrschen sie ja schon. Es ist beeindruckend, welches enorme Volumen des globalen Budgets bereits auf Alphabet und Facebook abfallen.
In den USA diskutieren Politiker und Ökonomen gerade die Zerschlagung der Internetgiganten. Hat die Stimmung gedreht?
Wenn wir mit unserer durch und durch kapitalistischen Grundhaltung die Zukunft gestalten wollen, dann gehts tatsächlich schief. Warum? Die Gegensätze verschärfen sich. In vielen Ländern werden ganze Berufe und Bevölkerungsgruppen obsolet. Ich gehe davon aus, dass es in 15 Jahren keine LKW-Fahrer mehr braucht, keine Bus- und Taxifahrer, Paketauslieferer, Bankangestellte, Reisefachkräfte. Das betrifft nicht nur in der Schweiz ziemlich viele Leute.
Die Internet-Ökonomie braucht dringend neue Spielregeln
Muss man den digitalen Hype mitmachen?
In meinen Kreisen gibt es viele Vorbehalte. Ich kenne niemanden, der sich Amazons virtuellen Assistenten Alexa, den Home-Lautsprecher von Google oder den Roboter-TV Bixby von Samsung in die Wohnung gestellt hat. Alles, was diese Geräte aufzeichnen, wird gesammelt und analysiert – zur Auswertung und Verbesserung intelligenter Sprachmaschinen.
Was ist die neue Währung im Netz?
Gehandelt wird nicht mehr mit realen Waren oder physischen Produkten. Die eigentliche Währung der digitalen Wirtschaft sind die privaten Daten der Nutzer. Vielen ist das immer noch nicht bewusst genug.
Viele Menschen fühlen sich den Aufgaben der digitalen Zukunft nicht mehr gewachsen oder werden gar nicht erst Teil dieser Welt.
Sie gehören vielleicht zu den Glücklichsten. Auch ich habe mich teilweise aus dem Internet verabschiedet. Drei Monate Facebook waren genug. Am Tag nach dem Amoklauf im Olympiazentrum in München löschte ich meinen Account – es war mir alles zu hysterisch. Es nervt mich, wie viel Zeit ich trotzdem am Handy verbringe. Wenigstens habe ich ein bisschen eine Entschuldigung: Ich lese gern politische Artikel in Onlinemedien. Das klingt weniger bescheuert, als wenn ich zugeben würde, dass ich süchtig nach Katzenvideos bin.
Können Sie sich als Autor die digitale Verweigerung leisten?
Ich habe nicht mal eine eigene Website – es geht prima ohne. Das ist der Vorteil, wenn man bei einem grossen Verlag unter Vertrag ist, der sich um die Promotion kümmert. Dafür bin ich dankbar.
Sie scheinen einen gesunden Umgang mit Onlinemedien zu haben.
Nein, ganz und gar nicht. Ich muss sogar ironischerweise zu technischen Hilfsmitteln und drastischen Massnamen greifen, wenn ich Ruhe brauche. Ich habe zum Beispiel auf meinem Computer eine Self-Control-App installiert, damit ich ungestört schreiben kann. Mails und Internetzugang bleiben während dieser Zeit gesperrt. Die Blockade lässt sich nicht einmal durch einen Neustart unterbrechen.
Eben feierten Schweizer Unternehmen mit dem Staat einen Digitaltag. Gleichzeitig belegen Studien, dass Kinder pro Tag bis zu 200 Minuten am Smartphone sind. Müssen wir uns da Sorgen machen?
Früher sassen die Kinder vor dem Fernseher (lacht). Natürlich kann man sich der Digitalisierung nicht komplett entziehen. Tatsache ist aber auch, dass das klassische, humboldtsche Ideal einer lebenslangen Bildung zunehmend in den Hintergrund tritt. Stattdessen mischt sich die Wirtschaft massiv in bildungspolitische Fragen ein. Schulabgänger werden sofort fit gemacht für den Job, technische Fächer dominieren. Für die Politik ist das eine Gratwanderung.
Wie werden wir von der künstlichen Intelligenz profitieren?
Sensoren könnten bei der Bekämpfung von Krankheiten in die Blutbahn eingespeist werden, um Krebszellen aufzuspüren. Das wäre eine begrüssenswerte Entwicklung. Problematisch wird es, wenn es dereinst möglich sein wird, Körper und Geist technologisch zu verbessern, um uns leistungsfähiger zu machen.
Wer wird sich die medizinische Optimierung leisten können?
Noch werden wir Menschen rund um den Globus mit einem ähnlichen Setting in eine zugegebenermassen ungerechte Welt hineingeboren – Talent nicht mit eingerechnet. In dem Moment, in dem das keine Grundvoraussetzung mehr ist, wird es schwierig. Wenn es sich nur noch die Reichen leisten können, ihre Kinder technologisch aufzurüsten, wird sich die Grundlage der Gerechtigkeit noch mehr auflösen, als dies heute schon der Fall ist.