Raini Feldner, 53, steht auf dem Segnespass gleich neben seiner Berghütte, 2627 Meter über Meer. Er blickt runter auf das Hochplateau. «Alle Spuren sind weg, man sieht nur noch einen dunklen Fleck.» Vier Tage ist es her, seit 200 Meter unter seiner Hütte, an der Westflanke des Piz Segnas, oberhalb von Flims GR, eine Ju-52-Maschine zerschellte und 20 Menschen starben. «Ich habe alles gesehen – bis zum bitteren Ende.»
Es ist Samstag, 16.57 Uhr, ein heisser Sommertag. «Ich hatte die Hütte voll. Die Stimmung war ausgelassen.» Eine Gruppe junger Männer feiert Polterabend. «Vier davon waren Ärzte, sie hatten den Abschluss frisch in der Tasche.» Feldner hört das Brummen der Ju-Maschine in der Ferne. «Die Tante ist schon zigmal über die Hütte geflogen. Sie tönte wie immer.» Er geht raus, möchte den Passagieren zuwinken. Die Maschine kommt angeflogen. Sie ist unterwegs Richtung Norden, vorbei am berühmten Martinsloch.
Doch statt über den Grat zu fliegen, macht sie eine scharfe Kurve nach links. Feldner stürmt auf den Pass. «Das Flugzeug kippte senkrecht ab und prallte spitzgerade auf den Boden.» Ein dumpfer Einschlag. Kein Rauch. Stille. «Vom Anflug zum Absturz dauerte es keine 15 Sekunden.»
Feldner löst sofort den Notruf aus. Die jungen Ärzte steigen von der Hütte runter zur Maschine. «Sie wollten helfen.» Feldner folgt ihnen. Es fällt ihm schwer, zu beschreiben, was er dort gesehen hat. «Mir war sofort klar: In diesem Wrack lebt niemand mehr.» Überall Trümmer, von der Kabine nichts mehr zu erkennen.
Der Absturz der Tante Ju, wie das Oldtimerflugzeug genannt wird, ist das schwerste Unglück in der Geschichte der Schweizer Luftfahrt seit dem Absturz einer Crossair-Maschine 2001. Warum die 79-jährige Ju-52 HB-HOT abstürzte, ist unklar. Ende Juli 2018 wurde sie zuletzt gewartet. Die Piloten setzten keinen Notruf ab. Es gibt keine Blackbox, keine Radardaten. Die Ermittler der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle sprechen von einer wahren «Detektivarbeit».
Dennoch gibt es Hinweise auf die Unglücksursache. So gehen Aviatikexperten aufgrund des senkrechten Absturzes von einem Strömungsabriss, einem sogenannten «Stall», aus. Dieser kann eintreten, wenn die Geschwindigkeit zu tief ist – etwa nach einer scharfen Kurve. Häufig schaffen es die Piloten noch, den Flieger hochzuziehen. Allerdings benötigen sie dafür dieentsprechende Höhe. Andreas Pfisterer, Chefpilot der Ju-Air, schliesst gegenüber der Schweizer Illustrierten denn auch einen Pilotenfehler nicht aus.
In Flims ist die Stimmung immer noch gedrückt. Über mehrere Tage starteten Rega, Heli Bernina und ein Super Puma der Armee mit einer kurzen Nachtpause fast ununterbrochen vom Feuerwehrdepot am Dorfeingang. Sie flogen über die Dächer der Bewohner hoch zum Unglücksort, das vier Wanderstunden entfernt in den Bergen liegt. «Das ständige Rattern. Es war fast wie im Krieg», sagt eine Anwohnerin.
Jürg Caprez, 39, Vize-Gemeindepräsident von Flims, steht auf einer Aussichtsterrasse im Dorf und blickt hoch Richtung Segnespass. «Der Absturz war ein Schock für die ganze Gemeinde.» Wie die meisten Einheimischen hat Caprez vom Unglück zuerst durch die Medien erfahren. «Viele sahen und hörten die Ju zwar fliegen, doch die Absturzstelle ist so weit vom Dorf entfernt, dass man da nichts mitbekommt.»
Dafür kennt er die jungen Burschen der freiwilligen Feuerwehr, die am Samstagabend ausrücken mussten. «Als der Notruf ausgelöst wurde, sind sie sofort hochgeflogen – im Wissen, dass das, was sie sehen, erschütternd sein wird. Dafür gebührt ihnen höchsten Respekt und Dank», sagt Caprez. Für ihn ist klar, dass die Gemeinde sich auch um die Angehörigen der Opfer kümmern würde, wenn diese vor Ort Abschied von ihren Liebsten nehmen möchten. «Unsere Gedanken sind bei ihnen.»
Die Bergungsarbeiten sind seit Dienstagabend abgeschlossen, seit Mittwoch sind die Wanderwege wieder offen. «Es ist gut möglich, dass wir mit den Hinterbliebenen am Unfallort Abschied nehmen. Wann, ist aber noch unklar», sagt Ju-Air-Sprecher Christian Gartmann. Mit dabei sein wird dann sicher auch Kurt Waldmeier, 68, Gründer und bis heute CEO der Ju-Air. Unter Tränen hat er an der Pressekonferenz in Flims vom schwärzesten Tag der 36-jährigen Geschichte der Ju gesprochen. Er selbst hat mehr als 5000 Flugstunden mit der Ju-52 absolviert. «Als Militärpilot lernt man auch mit dem Tod umzugehen. Aber hier habe ich liebe Freunde verloren, die ich über 30 Jahre gekannt habe.»
Um die Augenzeugen, Retter und Hilfskräfte an der Schaltstelle in Flims und am Unfallort kümmerte sich das Care Team Grischun. «Das Bild, das sich den Einsatzkräften bot, geht unter die Haut», sagt Teamleiter Jürg Mayer, 56. Während für die Bergung der Leichen Spezialisten der Polizei zuständig waren, mussten die Feuerwehrleute die Wrackteile für den Transport auseinanderschneiden. So kamen sie auch in Kontakt mit Leichenteilen. «Tagsüber liegt der Fokus auf den Aufgaben, die zu erledigen sind. Die Leute funktionieren. Doch in den Pausen, in den kommenden Tagen und Nächten steigen die Emotionen hoch», sagt Notfallpsychologe Benjamin Krexa, 41. Er und seine Kollegen hätten in den letzten Tagen viele gute Gespräche mit Helfern und Augenzeugen geführt. Nun bräuchten die Betroffenen Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.
Raini Feldner wirkt vier Tage nach dem Unglück gefasst. «Aber spurlos geht das nicht an mir vorbei, ich bin in Gedanken bei den Angehörigen.» Er fände es in Ordnung, wenn die Ju wieder flöge. «Ohne sie fehlt etwas am Schweizer Himmel.»