Zum Znacht fährt Jürg Grossen, 48, lieber heim, statt wie seine Kollegen im edlen «Bellevue» in Bern zu speisen. Weil seine Frau eine gute Köchin ist, wie er sagt. Aber wohl auch, weil sie ihm eine noch bessere Stütze ist. «Wir machen Politik im Team», sagt Annelies Grossen, 47. Die Gemeinderätin von Frutigen ist stolz, kann ihr Mann in Bundesbern mitmischen: als Präsident der Partei, die am besten zu ihnen passt, der Grünliberalen.
Der Nationalrat sitzt neben seiner Jugendliebe auf der Terrasse ihres Hauses in Frutigen. Er ist die Ruhe selbst. Nur wenn ihn die Medien als «Landei» betiteln, verliert der Berner Oberländer kurz die Fassung. «Ich bin ein Kosmopolit, denke global und handle lokal. Ich stehe auch für die Weiterentwicklung der Bilateralen.»
Ich bin ein guter Motivator und lasse meinen Mitstreitern gerne Raum, damit sie sich entfalten können.
Der Politiker wohnt mitten im Industrieareal, die beschauliche Bergwelt beginnt erst nach den Flachdächern der grauen Gebäude. «Viel verändert hat sich nicht, seit ich Parteipräsident bin. Abgesehen davon, dass nun alle etwas von mir wollen.»
Bereits mit 25 Jahren Unternehmer
An seine neue Rolle hat er sich rasch gewöhnt. Denn Grossen weiss, wie es ist, «am Karren zu ziehen». Das mache er auch als Unternehmer und Vater dreier Kinder im Alter von 13 bis 19 Jahren. «Ich muss mich nicht verstellen. Ich bin ein guter Motivator und lasse meinen Mitstreitern gerne Raum, damit sie sich entfalten können.»
Aufgewachsen ist er in einem Chalet in Frutigen. Jürgs Vater war Lehrer, seine Mutter Hausfrau. Nach der Schule machte er eine Lehre zum Elektroplaner. Sein Arbeitgeber galt als Pionier im Solarbereich. Da ihn Umweltschutz und Nachhaltigkeit interessierten, blieb er, machte dann die Rekrutenschule und reiste mit Annelies, die heute seine Frau ist, ein halbes Jahr durch Australien, Neuseeland und Asien.
Wenn man Geduld und Ausdauer hat, wird man belohnt.
Kurz vor seiner Rückkehr starb sein Chef bei einem Helikopterunfall. Damit brachen schwierige Jahre an: «Die Erben übergaben meinem Kollegen und mir die Firma. Dafür waren wir mit 25 Jahren eigentlich noch zu jung», sagt er heute, während er auf das Beachsoccer-Feld schaut, das er mit seinen Kindern jeden Winter in ein Eisfeld verwandelt. Über Jahre hinweg habe er als Chef 3500 Franken monatlich verdient und 130 Prozent gearbeitet. Im Gegensatz zum früheren Chef fehlte ihnen das Netzwerk.
Heute sitzen 40 Angestellte in den Büros unter Grossens Terrasse. Das KMU läuft gut. «Wenn man Geduld und Ausdauer hat, wird man belohnt.» Es ist diese Einstellung, die ihn durch das Leben trägt und die er an die Lernenden wie an die Jungen seiner Partei weiterreicht.
Die Probleme nicht den Enkeln überlassen
Zur Politik ist Grossen über seinen Beruf gekommen. Als Unternehmer denkt er wirtschaftlich und umweltfreundlich zugleich. Er ist überzeugt, dass dies der einzig gangbare Weg ist. «Man muss langfristig denken und darf die Probleme nicht den Enkeln überlassen.» So stehen in der Firmengarage mehrere Elektroautos, und auf dem Dach schimmern Solarzellen.
Ich habe Respekt davor, ein Volksvertreter zu sein.
Von der Grünliberalen Partei hört er erstmals vor zehn Jahren. Er lässt auf Smartvote seine politischen Ansichten auswerten und hat mit der Partei, die es damals erst im Kanton Zürich gibt, die grösste Übereinstimung. Im Jahr darauf wird die Berner Sektion gegründet, Grossen tritt bei. 2011 kandidiert er für den Nationalrat – ohne sich grosse Chancen auszurechnen.
«Es war wie ein Weitschusstor von der Mittellinie», sagt Grossen, der heute als Mittelfeldspieler im FC Nationalrat kickt. Und wie er das sagt, scheint er noch immer etwas überrascht zu sein, dass er tatsächlich im Bundeshaus sitzt.
Erst zuhören, dann schiessen
Seine erste Session bezeichnet er als «spezielle Erfahrung»: «Ich habe Respekt davor, ein Volksvertreter zu sein.» Also hat er sich in die Dossiers eingearbeitet und zugehört. Grossen ist kein lauter Politiker. Doch mittlerweile höre man auch ihm zu, sagt er. Er sei nicht so anders als sein Vorgänger Martin Bäumle: «Obwohl ich leiser bin, kann ich mich auch wehren.»
Seine Strategie sei einfach anders: «Ich höre meist zu, wie die andern ihr Pulver verschiessen. Und schiesse erst dann.»
Als so kühl berechnend scheinen ihn die Kollegen im Nationalrat nicht wahrzunehmen. Man hört nur Gutes über Grossen. SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher sagt: «Ich schätze seine Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Mit guten Argumenten lässt er sich auch von einer besseren Lösung überzeugen und beharrt nicht aus Prinzip auf seiner Variante.»
Und SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner lobt: «Menschlich ist Jürg Grossen ein ganz feiner Typ.» Er sässe einfach in der falschen Partei. Ähnlich CVP-Nationalrat Martin Candinas: «Grossen ist ein sehr umgänglicher Politiker.» Nur was die Berggebietsfragen betreffe, sei er ihm zu grün und zu liberal.
Die letzten Sonnenstrahlen fallen wie Scheinwerfer auf die Niesenkette. Zeit für Grossen, auf sein Bike zu steigen. Denn geistige Energie tankt er am liebsten auf den Bergen. «Da bin ich dann doch ein Landei.»