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Miss Schweiz assistiert bei Herz-OP in Marokko

Im Spital stösst Laetitia Guarino an ihre Grenzen

Diese Miss Schweiz packt richtig an! Laetitia Guarino besucht herzkranke Kinder in Afrika. Im Operationssaal zeigt die Medizinstudentin, was sie draufhat. Und kommt an ihre Grenzen.

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Chahida, 7, und ihre Eltern verlassen früh am Morgen das Haus. Sie gehen den Berg hinunter ins nächste Dorf, um nach einer Mitfahrgelegenheit zu suchen. Den Busbahnhof in der nordmarokkanischen Stadt Al-Hoceima erreichen sie am Abend. Das eigentliche Ziel, die 500 Kilometer entfernte marokkanische Hauptstadt Rabat, am nächsten Morgen um fünf Uhr. Von hier aus wird Chahida mit der Kinderhilfsorganisation Terre des hommes in die Schweiz fliegen, um dort am Herz operiert zu werden. Das Mädchen hat einen angeborenen Herzfehler, eine Fallot-Tetralogie. Hierzulande ist die chirurgische Korrektur dieser Fehlbildung Routine. In Marokko bedeutet sie - zumindest in armen Familien ohne Zugang zu Privatspitälern - auf lange Sicht das Todesurteil. Chahidas Eltern wissen, sie haben Glück, ihrer Tochter bietet sich die Chance auf ein gesundes Leben. Dennoch fliessen am Flughafen Tränen. Plötzlich kommen Mama und Papa noch so viele Fragen in den Sinn: Wer wird mit Chahida Arabisch sprechen? Wer mit ihr spielen? «Ich werde das tun», sagt Miss Schweiz Laetitia Guarino, 22, welche die Mission von Terre des hommes begleitet. Die angehende Ärztin beugt sich zu Chahida hinunter: «Gell, meine Kleine, wir sind jetzt Freundinnen.»

Chahidas Abschied von ihren Eltern setzt einen Schlusspunkt hinter drei kräfteraubende Tage, die Laetitia als Botschafterin der Kinderherzstiftung Corelina in Marokko verbringt. Seit vier Jahren werden mithilfe von Terre des hommes am Inselspital in Bern Operationen und Reha-Aufenthalte von Kindern mit Herzfehlern aus dem Nahen Osten und Afrika durchgeführt. Die Kosten für die Operationen werden von der Inselspitalstiftung getragen. In Zukunft wird Corelina für einen Teil dieser Kosten aufkommen, damit noch mehr Kinder durch Schweizer Spezialisten betreut werden können. Beim Besuch von Schweizer Ärzten vor Ort geht es darum, neue kleine Patienten in das Programm aufzunehmen.

Als Laetitia und die Ärzte im Hôpital de l’Enfant in Rabat eintreffen, quillt das Wartezimmer über. «Viele Schlümpfchen», sagt Kinderkardiologe Damian Hutter. Das ist der Kosename der Ärzte für Kinder mit blau angelaufenen Lippen und Extremitäten. «Man nennt das Zyanose», erklärt Prof. Alexander Kadner, Leiter der Kinderherzchirurgie am Inselspital. «Es bedeutet, das Herz kann nicht genügend sauerstoffreiches Blut pumpen.» Ohne Therapie ersticken die Kinder über Monate qualvoll. Laetitia nimmt ihren Notizblock zur Hand, stellt Fragen, schreibt mit, lässt sich verschiedene Herzfehler als Modell zeichnen. Sie weicht den Ärzten während der Konsultationen nicht von der Seite.

Eines von 100 Kindern kommt mit einem Herzfehler zur Welt. In der Schweiz wird deswegen jedes Neugeborene einem Screening unterzogen. In Marokko dagegen steht die Kinderkardiologie noch am Anfang. «Gerade die Landbevölkerung hält Kinder mit Zyanose oft für besessen. Niemand bringt sie zum Arzt», sagt eine lokale Mitarbeiterin von Terre des hommes. Zwar verfolge man auf lange Sicht das Prinzip des «Sichüberflüssigmachens», jedoch fehle es im Moment noch an allen Ecken und Enden, sprich an Aufklärung, Ausbildung und medizinischer Ausrüstung.

Um sich ein Bild von der Lage zu machen, operiert Alexander Kadner gemeinsam mit einem marokkanischen Herzteam ein Mädchen, das an einer schweren Verengung der Hauptschlagader leidet. Das Chirurgen-Team lädt die angehende Kinderärztin Laetitia ein, die Operation zu begleiten. Die Westschweizerin, nun mehr Medizinstudentin als Schönheitskönigin, willigt sofort ein. Sie stärkt sich mit Thé à la Menthe und Süssgebäck. Dennoch wird ihr unwohl, als der Chirurg die Blutgefässe am aufgespreizten Brustkasten verödet. Dieser Geruch! Die Hitze! Die Angst, sie könnte etwas falsch machen. «Darf ich mich kurz hinsetzen?»

Wahnsinn, unter welchen Zuständen marokkanische Ärzte in öffentlichen Spitälern arbeiten müssen

Kaum geht es ihr besser, verfolgt sie jeden Schritt der Operation. Sie reicht Skalpell, Gefässklemmen, Nadelhalter, Fäden. Sie kennt die Namen der Instrumente und versteht die medizinische Terminologie. Das Team arbeitet zügig und konzentriert, denn das Spital besitzt keine Herz-Lungen-Maschine. Nur mit ihr wäre es möglich, grössere und längere Eingriffe durchzuführen. «Wahnsinn, unter welchen Bedingungen die Ärzte hier arbeiten müssen», bemerkt Laetitia schockiert.

Am Ende des zweiten Tages haben die Ärzte 35 Kinder untersucht. Acht davon bieten sie zum Eingriff in die Schweiz auf. Der zweijährige Réda gehört nicht dazu. Er ist das einzige Kind eines Arbeiters aus dem Norden. Ein richtiges Schlümpfchen, schon ganz blau an Händen und Lippen. Doch für das Programm kommt er nicht infrage. «Sein Herzfehler ist zu komplex», sagt Kadner. Das Sterberisiko während der Operation wäre zu hoch. Eine adäquate Nachbehandlung in Marokko nicht möglich. Und mit der Summe, welche Rédas Eingriff kosten würde, kann drei anderen Kindern die Gesundheit geschenkt werden. Es gehe nicht darum, Leben gegeneinander abzuwägen, sagt Kadner. «Aber wir versuchen, mit den vorhandenen Mitteln die maximale Effizienz zu erzielen.» Laetitia bricht in Tränen aus. «Gewöhnt man sich je daran, nicht allen helfen zu können?», fragt sie, die einmal Kinderärztin werden möchte. «Nein. Dann wäre wohl etwas nicht mehr in Ordnung», antwortet Kadner. «Aber man lernt, auf das zu fokussieren, was man tun kann.»

Man gewöhnt sich nie daran, dass man nicht allen helfen kann

Etwa die kleine Nissrine heilen. Die Zweijährige soll im Juni am Inselspital operiert werden. Da ihre Geburt bislang nicht registriert wurde, besucht die Delegation von Terre des hommes die bitterarme Familie in der Agglomeration von Rabat. Es geht darum, mit den leseunkundigen Eltern einen Reisepass zu beantragen. Nissrine weint wegen all der Fremden im Haus. Ihr Papa tröstet sie: «Du musst keine Angst haben, Habibi, das sind liebe Menschen.» Er vertraut den Fremden. Denn die Tochter seines Nachbarn wurde vor zwei Jahren bereits erfolgreich im selben Programm am Herz operiert. Er weiss, dass Nissrine in der Schweiz eine schöne Zeit haben wird. Schoggi essen und im Wald spazieren, hat das Nachbarsmädchen erzählt. Und - «inschallah!» - geheilt zurückkehren!

So wie Chahida. Sie hat den Eingriff gut überstanden und erholt sich im Kinderheim von Terre des hommes in Massongex VS. In zwei Wochen darf sie nach Hause fliegen. Und vorher erhält sie noch einmal Besuch von ihrer neuen Freundin Laetitia.

Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 26. Mai 2015 - 13:59 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 16:09 Uhr