Marc Gisin hebt abwechslungsweise die 500-Gramm-Häntelchen, die kaum grösser sind als seine Hände. Dann macht der 1,98-Meter-Riese Übungen mit einem Theraband, das er in gesundem Zustand wohl sofort in zwei Stücke reissen würde. «Vorsichtig! Es ist noch kein Krafttraining, es geht nur um die Zentrierung der Schulter», ermahnt ihn Physiotherapeutin Stephanie Schüpfer, welche die Ski-Geschwister Gisin – zuerst Dominique, dann auch Marc und Michelle – schon seit bald 20 Jahren betreut.
Bereits diese einfachen Bewegungen bedeuten für den 30-jährigen Skirennfahrer einen enormen Fortschritt: «Vor zwei Wochen nahm ich einen Löffel Suppe und musste danach eine halbe Minute Pause machen, bevor ich den nächsten nehmen konnte», sagt Gisin. «Selber zu essen, kam mir so schwer vor wie eine Lauberhornabfahrt.» Er schmunzelt.
Sprüche reissen kann er noch immer. Er erzählt etwa, dass er acht Kilo abgenommen habe, weil es im Spital «durch die Schläuche hindurch halt kein Cordon bleu gab». Die Zeit in Vollnarkose nennt er «Powernap».
Dankbarkeit und Frust wechseln sich ab
Gisin ist einer, der sich selber nicht zu ernst nimmt und immer für einen Witz zu haben ist. Doch diesmal ist der Galgenhumor auch ein Mittel zur Verarbeitung. Seine positive Einstellung und die Dankbarkeit, dass nichts Schlimmeres passiert ist, wechseln sich mit Frust und Ratlosigkeit ab. «Es schisst mi ah», sagt er mehrmals, «denn ich war topfit und sicher, dass diese Saison noch etwas dringelegen wäre.»
Besonders eine Frage taucht im Kopf des Engelbergers immer wieder auf: «Wieso ist der Sturz genau an dieser Stelle passiert?»
15. Dezember, kurz nach Mittag. Marc Gisin rast die Abfahrtspiste in Gröden hinunter – und stürzt kurz vor den berühmt-berüchtigten Kamelbuckeln. Zuerst verschneiden seine Kanten, dann fliegt er durch die Luft, schliesslich prallt er mit Rücken und Kopf auf die eisige Piste und bleibt minutenlang reglos liegen.
Das Rennen wird unterbrochen. Seine Angehörigen und die ganze Ski-Welt bangen. Gisin wird mit dem Helikopter ins Krankenhaus von Bozen transportiert, dann folgt die erste Entwarnung: Zustand stabil. Noch am gleichen Abend wird er, wie in solchen Fällen üblich, ins künstliche Koma versetzt und mit der Rega ins Kantonsspital Luzern geflogen.
Schwere Tage für die Familie
Die Verletzungen sind weniger schlimm als befürchtet. Dennoch erleidet Gisin vier Rippenbrüche, Verletzungen an der Lunge, Frakturen an Wirbelsäule, Hüfte und Zähnen sowie eine Gehirnerschütterung. Er selber bekommt davon zunächst nichts mit. Fünf Tage wird er ins Koma versetzt, durch eine Sonde ernährt und künstlich beatmet. Powernap.
Video: Gisins Horror-Sturz
Für seine Freundin und sein Umfeld ist es eine schwierige Zeit. Zwar hat Familie Gisin Erfahrung im Umgang mit Stürzen und Verletzungen. Dominique musste neunmal am Knie operiert werden, Marc stürzte 2015 bereits in Kitzbühel schwer und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. «Wenn die Knie betroffen sind, ist es einfacher. Aber wenn es wie bei Marc um den Kopf und die Lunge geht, ist das nochmals ein anderes Level», sagt Schwester Michelle. «Wenn jemand leidet, den man liebt, ist das brutal. Ich konnte nichts tun, war hilflos.»
Trotzdem wagt sie sich zwei Tage später die für die Frauen etwas entschärfte Piste Saslong in Gröden hinunter. «Ich hatte das Gefühl, dass es ihm und der Familie wichtig war, dass wir uns mit dem Ort seines Unfalls versöhnen.»
Erinnerungen fehlen
Als Marc Gisin wieder bei Bewusstsein ist, dauert es Tage, bis er realisiert, was passiert ist. «Ich hatte keine Erinnerungen und nahm alles wie durch einen Filter wahr. Ich war sogar – das tönt jetzt blöd – irgendwie zufrieden, wohl wegen der starken Medikamente.»
Erst durch Gespräche mit seiner Familie konnte er erahnen, wie dramatisch die Situation gewesen war. «Als ich merkte, wie sehr sie gelitten haben, tat mir das echt leid. Sie hatten Angst, dass ich nicht mehr derselbe sein würde, wenn ich aufwache.»
Als er sich den Sturz ansieht, kann er den Schock der Angehörigen nachvollziehen. Doch neben den Antworten bringt das Video auch Fragen: «Wie konnte das passieren? Ich habe keinen Fehler gemacht. Und wieso genau dort? Wäre ich 20 Meter vorher gestürzt, wäre nichts passiert. Damit habe ich bis heute Mühe.»
«Ich bin noch der Alte»
Seit dem Jahreswechsel ist Marc Gisin wieder zu Hause in Engelberg OW. An Silvester kann er sich kaum erinnern. «Mein Gedächtnis ist wie ein Sieb, ich vergesse viele Dinge. Mein Kopf ist noch auf Stand-by.» Dafür sind die Schürfungen im Gesicht weitgehend verheilt, die Zähne – zumindest provisorisch – geflickt, und der Heilungsverlauf der Frakturen verlaufe gut, sagen die Ärzte. Und das Wichtigste: «Ich bin noch der Alte.»
Ob er auch auf den Ski wieder ganz der Alte wird, ist ungewiss. Zuerst will Gisin seinem Körper genügend Zeit und Ruhe geben. «Ich liebe das Skifahren, aber ich habe aus dem Sturz von 2015 gelernt.» Eines seiner Lieblingsrennen, die Lauberhornabfahrt vom Samstag, wird er vom Sofa aus am TV verfolgen. Mit dem Traum vom Comeback irgendwo im Hinterkopf.