Goldene Kiwis plampen in ihrem Garten, eine Meise hüpft durchs Geäst, es riecht nach Holzfeuer. «Come in primavera – wie im Frühling», sagt Marina Carobbio, 52, «man merkt den Klimawandel.» Tatsächlich: Die Nordschweiz versäuft an diesem Januartag in der grauen Tristesse, das Tessin aber leuchtet in milchigem Zauber.
In Lumino, in der Nähe von Bellinzona, führt Carobbio in ihr Häuschen aus Granit und Holz. In ein Sammelsurium aus Antikem und Exotischem, mit Basteleien aus Kinderhänden, in der Stube ein breites Sofa, behaglich, aber nicht behäbig. Draussen, vor dem Fenster, verschluckt der Monti di Loga allmählich die Sonne. «Ich kehre immer wieder gern heim», sagt Carobbio und setzt Kaffee auf. Vielleicht, weil sie so oft weg ist? «Vielleicht auch», sagt sie.
Bis dreimal die Woche pendelt sie nach Bundesbern
Seit zwölf Jahren sitzt Marina Carobbio für die SP im Nationalrat. 2011 wollte sie Nachfolgerin von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey werden, jedoch blieb ihr der Sprung aufs Ticket verwehrt. Nun präsidiert sie für ein Jahr den Nationalrat und ist damit die höchste Schweizerin. Zwei- bis dreimal die Woche fährt sie mit dem Zug vom Tessin nach Bern, nächtigt in einem Hotel.
Das Thema Bundesrat sei für sie abgeschlossen, sagt sie bei einem Espresso. «Ich hadere nicht mit Dingen, die sind, wie sie sind.» Aber sie habe sich sehr gefreut, dass sie in ihrer zweiten Amtswoche gleich zwei Bundesrätinnen vereidigen durfte. Immer und immer wieder ist sie in den Tagen davor den Wahlablauf durchgegangen, hat an den Laudationen für die abtretenden Bundesräte gefeilt.
Ihr Vater legte ihr eine minuziöse Vorbereitung ans Herz
Eine Frau, sagt sie, müsse sich nicht besser vorbereiten als ein Mann, «aber Frauen meinen, sie dürften sich weniger Fehler leisten». Methodisch habe sie viel von ihrem Vater gelernt. Werner Carobbio, 82, ein Urgestein der Tessiner Linken, hat sich stets minuziös auf die Argumente der Gegner vorbereitet. «Zu Beginn meiner politischen Karriere, mit 24 Jahren im Grossen Rat, musste ich mich von meinem Vater emanzipieren.» Wie hat sie das gemacht? Carobbio zuckt mit den Schultern, sagt lapidar: «Fleiss und Arbeit.»
Die Tessinerin spricht schnell und viel. Die Ratssitzungen leitet sie konsequent in ihrer Landessprache, obwohl sie fliessend Deutsch kann. Mit ihren Kindern Matteo, 22, und Laura, 14, spricht sie ebenfalls Italienisch, mit ihrem Mann Tessiner Dialekt.
Ohne Marco und meine Verwandten hätte ich Familie, Politik und Karriere nicht vereinbaren können
Seit bald 25 Jahren ist Carobbio mit Marco, 60, verheiratet, einem SBB-Ingenieur, gütige Augen, Schnauz und Birkenstöcke. Kurz setzt er sich an diesem Nachmittag mit an den Tisch – seiner Frau zuliebe. «Ohne Marco und meine Verwandten hätte ich Familie, Politik und Karriere nicht vereinbaren können», sagt sie.
Marina Carobbio ist nicht nur Politikerin. Sie ist auch Ärztin. Hausärztin. In Roveredo GR, wenige Autominuten von Lumino entfernt, arbeitet sie in einer Gruppenpraxis. Behandelt Husten und Krebs, hilft bei Sorgen und Unfällen. «Hier in den abgelegenen Tälern machen wir alles – anders geht es nicht.» In ihrem Präsidialjahr jedoch setzt sie aus.
«Mir reichen sechs Stunden Schlaf»
Der Beruf des Hausarztes sei bei jungen Medizinern nicht mehr so beliebt, bedauert Carobbio. «Nie ist man näher an den Menschen, nie näher an Leben und Tod, das ist doch etwas Schönes.» Aber da seien natürlich auch die vielen Notfälle, die Wochenend-Dienste, Telefone mitten in der Nacht – eine Herausforderung für eine Familie, vor allem wenn die Kinder noch klein sind. Ihr Mann sagt: «Abends war ich öfters zu Hause als meine Frau – wenn sie in Bern Session hatte sowieso.» Sie sagt: «Mir reichen sechs Stunden Schlaf.»
Heute studiert Matteo, der Sohn, Ingenieur an der ETH Zürich. Laura lebt noch zu Hause, nächstes Jahr will sie aufs Gymnasium. Der grosse Altersunterschied der Kinder war nicht geplant. «Ich hatte leider zwei Fehlgeburten» – Carobbio sagt das sachlich. Vielleicht weil sie als Ärztin weiss, dass Fehlgeburten häufig sind. Vielleicht aber auch, weil dies ihre Art ist.
Die Grüne Maya Graf, die mit ihr in der Gesundheitskommission sitzt, sagt: «Marina Carobbio ist eine Politikerin der leisen Töne, die mit viel Kompetenz, Engagement und Menschlichkeit Lösungen erarbeitet.» Auch FDP-Gesundheitspolitiker Josef Dittli beschreibt sie als «kompetent und lösungsorientiert».
Sie ist eine Befürworterin der Elternzeit
Marina Carobbio will, dass mehr Frauen den Weg in die Politik finden. «Ich war sehr privilegiert», sagt sie. Aber was ist mit Frauen, die nicht auf ein Netzwerk zählen können? «Für sie müssen wir Strukturen schaffen – Elternzeit zum Beispiel.»
Frauen können in der Politik viel bewegen. «Aber dafür braucht es Zeit, viel Zeit.» Oder viele Zugfahrten von Lumino nach Bern, vom Primavera in den Winter.