Stute Ragana, 16, wedelt mit den Ohren, tänzelt mit den Beinen. Liebevoll wird sie bei den Stallungen des internationalen Springreitturniers CSIO St. Gallen von Martina Hingis, 37, mit einer Schlauchdusche verwöhnt. Zwei sehr schwierige Umgänge am regionalen Challenge-Wettbewerb des Turniers hat das Reitpaar hinter sich. «Diese Abkühlung hast du dir jetzt redlich verdient», sagt die ehemalige Tennis-Königin.
So gut wie möglich hat sich Hingis auf ihren «grossen Kindheitstraum», den CSIO-Auftritt, vorbereitet. «Hier starten zu dürfen ist eine grosse Ehre», sagt sie. Tags zuvor reist sie alleine mit Ragana im Pferdetransporter in St. Gallen an, richtet der Stute, die sie schon seit neun Jahren reitet, die Pferdebox ein. Um sechs Uhr ist Martina wieder da, hätschelt und tätschelt ihr Pferd. Es wird mit einer Bürste geputzt, dann gefüttert. Kraftfutter (vier bis fünf Kilo am Tag), Heu oder Stroh, dazu auch mal Rüben und Äpfel. Und viel Wasser, täglich zwischen 30 und 50 Liter.
Eine knappe Stunde vor dem Start zieht sich Martina für den Wettkampf um, schlüpft in die Reitstiefel und sagt ganz stolz: «Das sind meine schönsten, vor fünf Jahren habe ich sie letztmals an einem Turnier getragen.» Ab gehts auf den Parcours! Prachtvoll dekoriert stehen die Hindernisse auf der Espenmoos-Wiese. Wie alle Konkurrenten schreitet Hingis die bis zu 1,25 Meter hohen Hürden ab, zählt die Schritte zwischen den Punkten, an denen das Pferd landet und abspringt: «Die Schrittzahl teile ich durch vier und erhalte so die Anzahl Galoppsprünge, die Ragana dann zwischen den Hindernissen absolviert.» Das sei, neben dem Parcoursverlauf, ganz wichtig zu wissen. Martina gibt offen zu: «Ja, ich bin nervös. Schon seit Tagen!»
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Ihr Lächeln im Gesicht, das um die Welt ging, verliert sie nie. 209 Wochen lang war sie die Weltnummer 1 im Tennis, 25 Grand-Slam-Turniere hat sie vor ihrem Rücktritt vergangenen Oktober gewonnen. Jetzt die grosse Reitkarriere? «Nein», sagt Martina, die im Alter von acht Jahren mehr aus Langeweile in den Ferien zusammen mit ihrer Mutter Melanie Molitor, 61, zum ersten Mal auf einem Pferderücken sass. «Pferde sind und bleiben meine grosse Leidenschaft. Ich mache das aus Spass, aus purer Freude.»
Jetzt will sie wieder vermehrt an regionalen Turnieren starten. «Der Rang steht nicht an erster Stelle. Aber natürlich freue ich mich, wenn ich vorne mithalten kann. Ein tolles Gefühl, so ein sauberer Null-Fehler-Ritt!»
Mit einem Kuss wünscht der Zuger Sportarzt und Unfallchirurg Harry Leemann, 38, seinem Schatz viel Glück. Ihr Ritt allerdings fällt dann durchzogen aus, einige Stangen fallen. Martina atmet tief: «Schwierig, Ragana muss sich an derart anspruchsvolle Parcours noch gewöhnen.» Doch nun kümmert sie sich wieder um ihr Pferd, sattelt es ab, spritzt es ab, füttert es. Martinamacht alles alleine: «Ich brauche keinen Pferdepfleger, mache alles sehr gerne.» Einzig Sandra, 53, und Fabian Gachnang, 54, die Pächter des Stalls Gehrimoos in Rüschlikon ZH, sind als Bewacher und Berater angereist. Seit zehn Jahren sind Martinas drei Pferde in deren Stallungen.
Zwischen den beiden Umgängen schlendern Martina und Harry verliebt durch die CSIO-Anlagen. Martina trifft viele alte Bekannte aus der Reitszene. «Grandios, dass du hier startest», schwärmt der Schweizer Equipenchef Andy Kistler, 63. Reitlegende Markus Fuchs, 62, ist Sportchef am Turnier – und nimmt Martina mit einem Handschlag als 200. Mitglied des Sankt Galler CSIO-Gönnerclubs auf.
Beim zweiten Umgang läufts schon besser. Pech nur, dass ein Parcourshelfer plötzlich mitten in einem Hindernis steht. Martina muss einen Notstopp einlegen. «Alles bestens, ich bin sehr zufrieden», sagt sie beim Abspritzen ihrer Stute. Und weil ihr alles so gut gefällt, beschliesst sie spontan, noch eine Nacht zu bleiben. Was für ein tolles Erlebnis, was für eine grosse Leidenschaft!