Auf dem linken Fuss tritt er unmerklich weniger fest auf, ein leichtes Hinken lässt sich nicht verbergen. Seinen bösen Gegnern kann er nichts vormachen. Sich selbst aber auch nicht. Glarner Matthias, 33, geht noch nicht ganz rund. Es ist indes das einzige Indiz für die schwierigen Monate, die der herrschende Schwingerkönig hinter sich hat.
Alles andere an dem 1,86 Meter grossen 114-Kilo-Brocken strahlt pure Zuversicht und Zufriedenheit aus. Mit Partnerin Claudia Hediger, 34, geniesst er die Schussfahrt auf dem Davoser Schlitten. Die beiden lachen und albern herum, als wäre alles eitel Sonnenschein. Das Nachtschlitteln an diesem Mittwoch auf der beleuchteten Piste von der Mägisalp hinunter nach Bidmi ist ein Heimspiel für das Paar. Glarner arbeitet hier als Personalbetreuer bei den Bergbahnen Meiringen-Hasliberg. Die Wohnung in Heimberg BE bei Thun ist nicht weit entfernt. «Wir haben seit 2016 nicht so viel Zeit füreinander. Aber die, die wir haben, geniessen wir umso intensiver», sagt Glarner. Es ist unverkennbar: ein glückliches Paar.
Galerie: Schwingerkönig 2016 Glarner Matthias
Den «geduldigsten Menschen der Welt» nennt Claudia ihren Mätthel. Eine «Gmüetsmoore, die man nicht so schnell aus dem Gleichgewicht bringt», er sich selbst. Ein Glücksfall, dass es so ist. Menschen, die weniger in sich ruhen als der Haslitaler, würden die Geschichte des Matthias Glarner wohl nicht so positiv durchstehen.
Der Unfall ist Teil seiner Geschichte
Rückblende: Im August 2016 wird aus dem Spitzenschwinger Glarner Matthias der Topschwinger. In Estavayer-le-Lac FR holt er sich mit einem Schlussgangsieg gegen Orlik Armon den Königstitel am Eidgenössischen. Popularität und Verpflichtungen in neuer Dimension prasseln auf den studierten Sportwissenschaftler ein. Obwohl er von sich sagt, nicht gern im Mittelpunkt zu stehen, geniesst es Glarner. «Der König zu sein, fägt no hüt», sagt er. Doch aus dem Popularitätstraum wird am 27. Juni 2017 vorübergehend ein Albtraum. Bei einem Fotoshooting für die «Schweizer Illustrierte» stürzt Glarner vom Dach einer Seilbahngondel auf dem Hasliberg zwölf Meter in die Tiefe.
Keine Schuldzuweisung, keine Ressentiments. «Den Unfall akzeptiere ich, er ist nun einfach Teil meiner Geschichte. Ich habe ihn verarbeitet, beschäftige mich nicht mehr mit ihm.» Nicht ein einziger Albtraum plagt ihn seither, nicht die geringste Angst hat er, in eine Bahngondel zu steigen. «Manchmal kommt mir der Sturz vor dem Einschlafen in den Sinn, aber dann ist er nach wenigen Sekunden gleich wieder weg.»
Glarner weiss aber, dass er riesiges Glück hatte. Trotz Beckenring-Sprengung und Brüchen am Fussgelenk ist er schon in der Notfallabteilung des Inselspitals wieder guter Dinge. «Es ging für ihn sofort eine neue Zeitrechnung los in Richtung Eidgenössisches 2019 in Zug», blickt Claudia Hediger zurück, «und er haderte nie. Als Chrigu Stucki ihn als Erster im Inselspital besuchen wollte, obwohl Mätthel anonymisiert untergebracht war, liess er ihn ins Zimmer rufen – und dann hatten es die beiden gleich richtig lustig zusammen.»
«Ein erster richtiger Rückschlag»
Glarner macht in der anschliessenden Reha in Magglingen rasch Fortschritte und kehrt schon im Frühjahr 2018 in den Sägemehlring zurück. Einige gemahnen zu längerer Pause. «Aber der Aufbau verlief prima, und ich wollte möglichst das Wettkampfgefühl nicht verlieren», sagt König Mätthel. «Zudem war damals schon klar, dass es ohnehin irgendwann eine weitere Operation am Fussgelenk geben wird und später wohl einmal ein künstliches Gelenk. Ich ging also kein Risiko ein.» Der Sieg beim stark besetzten Klubschwinget in Interlaken bestätigt seinen Fahrplan. Doch im Verlauf der folgenden Wochen werden die Schmerzen im Fuss wieder stärker. Glarner lässt nochmals alles abklären und kommt nach dem MRI mit den Ärzten zum Schluss: Vor allem die Knorpelabsplitterung im linken Fussgelenk macht eine neuerliche Operation unumgänglich, die Saison ist zu Ende.
Im August 2018 dann dieser zweite Eingriff in der Basler Merian Iselin Klinik. «Da war ich schon wieder gefasst. Ich bin eben manchmal ein hoffnungsloser Optimist. Aber zuvor, als ich die Gewissheit erhielt, dass die OP bereits zu diesem Zeitpunkt unumgänglich ist, wurde es ein uncooler Abend. Ein erster richtiger Rückschlag.» Umso mehr, als der Countdown in Richtung ESF 2019 unerbittlich läuft. Die Titelverteidigung ist Glarners grosses Ziel. Dafür nimmt er neuerliche Reha-Wochen in Kauf, dafür arbeitet er diszipliniert am zweiten Aufbau.
Zusätzliche Energie gibt ihm sein königlicher Status. Doch der ist auf Glarners Weg zurück Fluch und Segen zugleich: «Ich will die einmalige Atmosphäre eines Eidgenössischen unbedingt noch einmal in mich aufsaugen. Aber der Königstitel hilft in meiner jetzigen Situation nicht sehr. Ohne ihn könnte ich es ruhiger angehen lassen, weil nicht alle Augen auf mich gerichtet wären.»
Glarner will kein Clown sein
Für den Berner Oberländer ist klar, dass er in Zug nur als kompetitiver Schwinger antreten will. «Ich gehe nicht als Clown ans Eidgenössische. Ich muss das Gefühl haben, dass ich um die Kränze mitschwingen kann.» Und wenn nicht? Dann bricht für Glarner Mätthel die Welt nicht zusammen: «Das Bernisch Kantonale und der Brünigschwinget werden wegweisend. Bin ich dann noch nicht voll im Saft, werden die verbleibenden rund vier Wochen bis zum Eidgenössischen nicht reichen, um so weit zu kommen. Aber das wäre auch in Ordnung, wenn ich mir dennoch sagen könnte, dass ich alles probiert und alles Erforderliche für die Rückkehr getan habe.»
In diesen Wochen ist Glarner wieder ins technische Training eingestiegen. Voll belasten kann er dabei aber noch nicht. Sein Cousin, der Spitzenschwinger Simon Anderegg, ist sein Sparringspartner, der weiss, wie er beim König zupacken kann und wie noch nicht. «Es geht mir körperlich aber sehr gut, ich habe rund drei Kilo Muskelmasse zugelegt. Ist der Fuss wieder ganz in Ordnung, bin ich überzeugt, als der bessere Schwinger zurückzukehren.» Auch Ski fährt er schon wieder, freut sich diebisch, seinem Konditionstrainer Roland Fuchs im Sponsorenrennen mehr als zwei Sekunden abgenommen zu haben.
Die Familienplanung steht hinten an
Ob er die Schwingerkarriere bei einem Forfait für Zug fortsetzen würde, darüber hat sich Glarner noch keine Gedanken gemacht. «Mein Fokus gilt derzeit einzig dem Ziel, ganz gesund zu werden.» So muss denn auch Privates vorerst hinten anstehen. Eine Hochzeit mit Claudia nach fast elf gemeinsamen Jahren kann sich Glarner zwar ebenso vorstellen wie die Gründung einer Familie. «Aber das hat in unseren Plänen vorerst noch keinen Platz. Wenn es so weit ist, wollen wir uns uneingeschränkt dafür engagieren.» Immerhin hoffen sie, bald den Traum vom Eigenheim im Grossraum Thunersee zu verwirklichen. Und die Ferien nachzuholen, auf die sie seit Estavayer nicht nur Matthias’ wegen verzichten mussten: Als Angestellte des Schweizerischen Fussballverbandes weilte Claudia Hediger unter anderem mehrere Wochen an der Fifa-WM in Russland.
Hat die Berg- und-Tal-Fahrt der jüngeren Vergangenheit etwas Positives für Matthias Glarner, dann das: «Claudia und ich sind gemeinsam in die Situation hineingewachsen, das hat uns noch enger zusammengeschweisst. Und ich konnte mal aus dem ‹Hamsterrad ausbrechen›. Ich weiss jetzt, dass ich keine Angst haben muss vor dem Leben nach dem Schwingen. Ich werde nicht in ein Loch fallen.» Dass er im Herbst ein CAS-Studium in Betriebswirtschaft aufnehmen will, ist ein Fingerzeig.
Doch noch ist es nicht so weit, noch sitzt Glarner Mätthel auf dem Thron. Der König ist längst nicht tot – es lebe der König!