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Matthias Sempachs Plan fürs ESAF 2016

Mit der Kraft aus einer anderen Welt auf den Thron

Der König ist tot - lang lebe der König! Nach seinem Sieg 2013 in Burgdorf BE ist Sempach Matthias auch beim Eidgenössischen von Estavayer-le-Lac FR der grosse Favorit. Und das nicht nur dank Schweizer Qualitäten. Auf die überragende Physis des Emmentalers hat auch Down Under entscheidenden Einfluss. Kugelstösserin Valerie Adams aus Neuseeland gibt Mättu Extra-Schub.

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Multikulti, schiesst es dem Betrachter durch den Kopf. Auch wenn der Begriff nicht wirklich zutreffend ist, irgendwie hat es etwas. Auf engem Raum üben hier Sportler ihren Beruf aus, die sich so sehr voneinander unterscheiden wie Ethnien aus Europa, Afrika oder Asien. Was also wäre adäquat zu multikulti? Multisporti?

Die drei Skispringer erkennt man leicht: dünn, knochig, locker aus dem Stand auf den Schwedenkasten raufhüpfend. Snowboarder und Free-Skier lassen sich anhand ihrer braun gebrannten Gesichter und der wilden Haarmähnen identifizieren. Leichtathleten? Das müssen die mit den knöchellangen Tights und nervösen Trippelschritten sein. Ein paar Zentimeter Länge mehr und Muskelpakete gleichmässig am ganzen Körper verteilt: Bei der Fünfer-Gruppe von «Kästen» dürfte es sich um Handballer handeln. Alle sind sie am «End der Welt» angekommen. Dort, wo sich Fuchs und Hase am Jura-Südfuss auf 900 m ü. M. gute Nacht sagen. Und wo das Herz des Schweizer Leistungssports am heftigsten schlägt: In der riesigen Mehrzweckhalle des Nationalen Sportzentrums von Magglingen.

Zwei Riesen von Postur

Hier funktioniert das Nebeneinander verschiedenster Disziplinen reibungslos. Man kennt sich, grüsst sich, hilft sich mit der Trinkflasche aus. Alles ist verschwitzte Harmonie, aus der niemand hervorsticht. Bis zwei Neue den Kraftraum am Hallenrand betreten - und gleichsam alles in den Schatten stellen. Zwei riesige Gestalten. Einmal 193 cm Körperlänge und 120 kg Gewicht, einmal 194 cm und 110 kg. Fast duckt man sich unwillkürlich. Und staunt dann noch viel mehr: Ein Mann und eine Frau! Ein Riesenpaar. Siegfried und Brunhild aus der Nibelungensage.

Er, Matthias Sempach, 30-jährig, Schwingerhüne, dunkelblonde Haare, breiter Emmentaler Dialekt, sehr schweizerisch. Sie, Valerie Adams, 31, aus Rotorua, Neuseeland. Ihr Maori-haftes Gesicht verrät die Mutter aus Tonga. Der Vater ein Schotte. Nicht nur ihr Geschlecht unterscheidet die zwei.

Von Guru Egger gestählt

Aber es gibt auch eine grosse Gemeinsamkeit: Beide sind gleichsam die Herrscher ihrer Disziplin. Valerie Adams, beste Kugelstösserin der Welt, zweifache Olympiasiegerin (2008, 2012), sieben Mal Weltmeisterin. Sempach Matthias, regierender Schwingerkönig und Titelhalter des Kilchberger Schwinget sowie Gewinner zahlloser Kranzfeste. Es könnte zumindest niemand das Gegenteil behaupten, bezeichnete man auch ihn als den Besten der Welt in seiner Sparte. Beim Eidgenössischen vom kommenden Wochenende in Estavayer-le-Lac, quasi der WM im Schwingen, ist er erneut der grosse Favorit. Nachdem er im Mai von einem Jahr Verletzungspause stärker denn je zurückgekehrt ist.

Jetzt liegen Valerie und Mättu am Boden auf einer Matte, dehnen ihre imposanten Muskelpakete. Vor ihnen hat sich Jean-Pierre Egger aufgebaut, gibt kurze, prägnante Anleitungen. Ebenfalls ein Hüne von Gestalt, hat der einstige Spitzen-Kugelstösser den Thurgauer Werni Günthör in den späten Achtziger- und frühen Neunziger-Jahren zu drei WM-Titeln gecoacht. Seither gilt der schnauzbärtige Neuenburger als Guru des Krafttrainings in der Schweiz, hat Top-Athleten aus den verschiedensten Sportarten stark und noch stärker gemacht. 73 ist Egger inzwischen, aber weder für Adams noch für Sempach tut das Alter etwas zur Sache. Was Egger sagt, ist ihnen heilig.

Harmonische Dreierkiste

Eine Serie Seitstützen links, eine rechts, eine Minute Seilspringen. Der Körper will richtig aufgewärmt sein, ehe es an die Gewichte geht. Seit acht Jahren arbeitet der Schwingerkönig von 2013 mit Egger zusammen – ohne Vertrag für die Kooperation. «Das funktioniert alles auf kollegialer Basis und per mündlicher Absprache», sagt Sempach. «Fast wie in einer Familie ist das mit uns», ergänzt Egger, «und dort gibts ja schliesslich auch keine schriftlichen Verträge.»

Valerie Adams absolviert bei Egger auch das technische Training und ist rund acht Monate pro Jahr mit dem Trainer zusammen. In Biel hat sie in dieser Zeit festen Wohnsitz, fliegt nur im Winter ins heimische Neuseeland. Sempach schliesst sich dem Team in der Regel einmal wöchentlich an, reist zum gemeinsamen Krafttraining jeweils für einen Tag von Alchenstorf BE nach Magglingen. Dass die Dreierkiste trotz der unterschiedlichen Beanspruchung bestens funktioniert, wird schnell ersichtlich. Die beiden Riesensportler flachsen zusammen, spielen sich zwischendurch einen Streich oder hauen sich spasseshalber so auf die Schulter, dass unsereins danach den Physiotherapeuten aufsuchen müsste. Gibt Jean-Pierre Egger nach dem Aufwärmen aber seine präzisen Anweisungen, ist fertig lustig. Dann gehts an den Kraftgeräten  zur Sache. Valerie steigert die Belastungen kontinuierlich, bis sie beim Bankdrücken mehrfach nacheinander 150 Kilo hochwuchtet. Mättu sichert ihr die Hanteln und feuert seine Trainingspartnerin an: «Allez, Val, allez!» Als sie die Gewichte erschöpft auf der Halterung deponiert, gibts ein mehrsprachiges königliches Kompliment: «Magnifique, you amazing woman!» Adams lacht verschmitzt, es scheint eine Art Codewort zu sein.

Olympia- und Königstitel?

Sempach arbeitet an diesem Tag vorab mit der Armkraft, beginnt bei 100 Kilo, stemmt kontinuierlich mehr Gewicht in die Höhe. Bald drohen die Adern an seinem Kopf vor Anstrengung zu platzen, während Valerie brüllt: «Go, Matthias, go, one more! You can do it!» Dieser Frau kommt man lieber nicht dumm. Coach Egger ist von den Leistungen seiner Schützlinge angetan: «Beide kommen von gravierenden Verletzungen zurück. Valerie hatte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres drei Operationen. Es ist erstaunlich, dass sie schon wieder so weit ist.» Obs für Olympiagold und den Königstitel im Team Adams-Sempach-Egger reicht? «Bei ihr wirds knapp», sagt Egger. «Aber sie arbeitet extrem hart, und deshalb halte ich es nicht für ausgeschlossen. Matthias hingegen hat ja diese Saison schon gezeigt, wie gut er wieder ist.»

Nebenan stösst Sempach die Hanteln nun auf dem Rücken liegend in die Höhe. Der Kopf ist hochrot. «Strawberry Head!», ruft ihm Valerie zu und lacht schallend. Egger klatscht beiden Beifall, die Frau aus Down Under sagt: «Happy coach, happy life. So funktioniert das bei uns.»

Kein Geschlechtergraben

Der Erfolg des Trainingsmodells gibt Eggers Konzept recht. Er war es, der Adams und Sempach fürs Krafttraining zusammengebracht hatte. Der Nutzen der Kooperation liegt vor allem im mentalen Bereich. Sempach: «Es geht um die Motivation, ums gegenseitige Puschen. Das hilft enorm, um an die Grenzen zu gehen.» Vor allem würden Adams und Sempach in jenen Bereichen voneinander profitieren, in denen das Gegenüber Vorteile hat. «Matthias hat eindeutig noch Reserven bei der Rohkraft», sagt der Trainer, «ist dafür wesentlich spritziger und schnellkräftiger als sie.» Die 240 Kilo, die Valerie mit Kniebeugen hochdrückt, würden Sempach überfordern. Dafür staunt sie, wenn der Schwingriese serienweise mit Sprüngen aus der Hocke wie eine Feder die hohen Stufen der Tribüne im «End der Welt» hochjagt.

Auch dass hier zwei verschiedene Geschlechter im sportlichen Vergleich zusammenprallen, ist für Jean-Pierre Egger absolut problemlos. «Die zwei verstehen sich so gut, dass das gar kein Thema ist. Kommt dazu, dass Valerie ein viel extravertierterer Typ ist und die dominante Rolle im Verbund einnimmt. Reputation schafft eine natürliche Hierarchie. Trotzdem ist sie jeweils enttäuscht, wenn Matthias einmal nicht zum Training kommen kann.»

Logisch, ist mit der engen Zusammenarbeit auch das gegenseitige Interesse an der Sportart des anderen gewachsen. So war Sempach auch schon im Winter zum Training in Neuseeland. Sie dagegen besuchte einmal das Hallenschwinget in Biel - und war von der Ambiance leicht irritiert: «Ich habe Matthias lautstark angefeuert und dafür seltsame Blicke der Zuschauer rund um uns herum geerntet. Sie diskutieren lieber ruhig, trinken ein Bier und rauchen eine Zigarre. Ich kann nicht verstehen, dass man da nicht mehr mitgeht.» Überhaupt ist Valerie Adams trotz der vielen Jahre unter Eggers Fittichen und der eigenen Wohnung in Biel noch nicht ganz heimisch geworden in der Schweiz. «Die Kultur bleibt mir etwas fremd. Wir sind in Neuseeland viel offener, unkomplizierter, vielleicht auch etwas chaotischer. Das fehlt mir manchmal schon etwas.» So wie auch ihre 17 Geschwister, von denen es Bruder Steven als Basketball-Profi in der NBA bei den Oklahoma City Thunder zu etlichem Ruhm gebracht hat.

Kein Wunder, dürfte Adams’ Weg nach den Spielen von Rio definitiv vom «End der Welt» ans andere Ende der Welt führen. Seit drei Monaten ist sie in zweiter Ehe verheiratet und will nun eine Familie gründen. Die Saison 2016 bestreitet sie noch zu Ende, danach dürfte Schluss sein.

Sie hört auf, er noch lange nicht

Jean-Pierre Egger will sich dann auch aus dem Spitzensport zurückziehen, und die ebenso imposante wie herzliche Valerie Adams dürfte ihm und auch Matthias Sempach fehlen. «Schau dir die jungen Handballer an: Keine Tapes. Und dann schau mich an: Von oben bis unten voller Tapes. Das ist ein Zeichen, dass man alt wird.»

Matthias Sempach dagegen sieht seine Zeit noch nicht gekommen. Nach Estavayer heisst sein nächstes Ziel «Eidgenössisches in Zug 2019» - wenn die Gesundheit mitspielt. Die Familiengründung hat er bereits «nebenbei» bewältigt. Sein kleiner Henry dürfte den Papa noch bewusst als aktiven Schwinger erleben. Als den stärksten Mann in Zwilchhosen. Woran auch eine dunkelhäutige Frau von weither ihren Anteil hat. Die zusammen mit dem wohl schweizerischsten aller Schweizer Sportidole beweist, wie im Sport Multikulti im Kleinformat funktionieren kann. Oder eben: Multisporti. 

(Diese Sponsoren setzen auf Matthias: Emmentaler AOP, Toyota, AvescoCAT, Jakob-Markt, Tissot, Ochsner Sport, Dolor-X, Bschüssig, IP Suisse, Melior.)

Von Iso Niedermann am 26. August 2016 - 15:46 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 14:55 Uhr