Zwanzig Paar Ski müssen diesmal genügen. Mauro Caviezel und Servicemann Klaus Huttegger zerren die zahlreichen Taschen aus der Wengernalpbahn auf die verschneite Bahnhofsplattform in Wengen BE. Normalerweise hätte «Hutti» für Caviezel und Skifahrerkollege Niels Hintermann über 30 Paar Ski dabei für ein Rennwochenende. Aber in Wengen ist alles ein wenig anders: Es ist der einzige Weltcuport, der nicht mit dem Auto erreichbar ist. Und so wird das Material – Caviezel hat neben den Ski noch vier grosse Taschen dabei – in Lauterbrunnen vom Auto auf den Zug, in Wengen vom Zug aufs Elektrofahrzeug des Hotels geladen. Trotzdem sagt Caviezel: «Die Anreise ist speziell und deshalb schön, nicht mühsam.»
Er geniesst die Kulisse
Bereits als 16-Jähriger fuhr er erstmals auf der Lauberhorn-Strecke, damals zwei Kategorien unterhalb des Weltcups. Und er liebt nicht nur das Rennen, sondern das ganze Drumherum: «Wenn du am Start stehst und die Wahnsinnskulisse siehst, dann das Heimpublikum, diese Völkerwanderung, die stattfindet, die Stimmung, alles ist wunderbar!»
Galerie: Die Skistars in der Fotobox
Nun träumt er davon, dass in der legendären Abfahrt vom Samstag einmal alles aufgeht. Selbstvertrauen hat er in diesem Winter bereits getankt: Dreimal schaffte er es aufs Podest, zweimal im Super-G und einmal in der Abfahrt.
Im Hotel angekommen, diskutiert Mauro Caviezel erst einmal mit dem zweifachen Lauberhorn-Sieger Beat Feuz, 31, über die Schneemassen zu Hause. Viel steht an diesem Anreisetag nicht mehr an, und so macht sich Caviezel noch dick eingepackt auf eine lockere Joggingrunde durchs tief verschneite Wengen. Schmerzfrei! Was durchaus ein Ausrufezeichen verdient: Beim 30-jährigen Bündner ist das nämlich alles andere als selbstverständlich.
Ein steiler Weg nach oben
Immer und immer wieder verletzt sich der Ältere der Caviezel-Brüder – Gino, 26, ist Riesenslalom-Spezialist –, stets schafft Mauro den Anschluss wieder, erlebt dann aber neuerliche Rückschläge. Vom Wadenbeinbruch über den Kreuzbandriss bis zur Schulterluxation ist alles dabei, gleich mehrere Saisons kosten ihn diese Verletzungen insgesamt.
«Das hat mich schon verändert», sagt Caviezel, der mit seiner Freundin bald nach Pfäffikon SZ zieht, um für die vielen Reisen zentraler zu wohnen. «Nicht, dass ich heute der Geduldigste bin, aber ich gehe die Dinge mit einer gewissen Ruhe an. Ich weiss, dass nicht alles selbstverständlich ist und wie schnell es gehen kann.» Daraus zieht er aber auch Positives, denn bisher galt das auch stets umgekehrt: Nach jedem Tiefpunkt ist er wieder erstarkt zurückgekommen.
Die Karriere stand auf der Kippe
Ein halbes Jahr vor der Heim-WM in St. Moritz 2017 liegt er wieder mal im Operationssaal: Eine gebrochene Hand muss mit Nägeln fixiert werden. Trotzdem schafft er im Engadin die Überraschung und gewinnt in der Kombination die Bronzemedaille – ohne zuvor je auf einem Weltcup-Podest gestanden zu sein.
Die härteste Prüfung aber stellte sich ihm 2011, als ziemlich alles im Knie kaputt ist und er über ein Jahr lang nicht richtig gehen kann, ständig Schmerzen hat. Es ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal klar, ob er wieder normal Sport würde treiben können – geschweige denn das Knie den extremen Belastungen des Skirennsports aussetzen. «Diese Ungewissheit ist das Mühsamste. Du arbeitest jeden Tag, hast Schmerzen, es geht ins Endlose.»
Diese Ungewissheit ist das Mühsamste
Auch wenn die Zeit hart ist und sich das Umfeld fragt, weshalb er überhaupt noch kämpft, kommt für ihn nicht infrage aufzugeben, «auch wenn es immer das Einfachste wäre». Doch das tat er schon als Kind nicht gern. Wenn es hiess, er solle irgendwo nicht raufsteigen, hat er es trotzdem gemacht – und mit dem Hinunterfallen Lehrgeld bezahlt.
Diesen Winter ist alles anders
In der Situation vor ein paar Jahren aber führte das Weiterkämpfen zur Erlösung. Zwei Winter lang ist Caviezel ausgefallen, bis ihm schliesslich Manualtherapeut Rolf Fischer helfen kann – wie so vielen anderen Spitzensportlern in der Schweiz, unter anderem Carlo Janka.
Diesen Winter ist alles anders. Nach einer reibungslosen Vorbereitung im Sommer weiss der Bündner, dass er konkurrenzfähig ist – und reiht in Lake Louise und Beaver Creek drei Podestplätze aneinander. Ein Traum wäre es, wenn das auch bei seinem Lieblingsrennen im Berner Oberland gelingen würde. Noch hat er die längste Abfahrt der Welt nie ganz ohne Fehler bezwingen können. Um hier zu triumphieren, muss alles zusammenpassen. «Am Anfang ist vor allem die Länge eindrücklich», sagt er schmunzelnd, «da kannst du kaum mehr aus dem Zielraum gehen.»
Bald sitzt er wieder in der Wengernalpbahn, diesmal nur mit einem Paar Rennski, in Richtung Start. Tauscht sich im Zug noch kurz mit den Fans aus, schöpft daraus Motivation. Und dann heisst es: freie Fahrt für Mauro Caviezel!