Die Geschichte war fast kitschig, als Michelle Gisin im Februar in Südkorea vier Jahre nach ihrer Schwester ebenfalls Olympiasiegerin wurde. Lange war sie das Talent, die kleine Schwester, aber seit ihrer Kombi-Silbermedaille an der WM in St. Moritz 2017 ist die 25-Jährige aus dem Schatten von Dominique herausgetreten. In der vergangenen Saison schafft sie es im Weltcup gleich in drei Disziplinen aufs Podest – in der Abfahrt, dem Super-G und in der Alpinen Kombination. Und das, obwohl sie in ihren ersten drei Weltcup-Saisons bloss in den technischen Disziplinen fuhr und sich nach wie vor als Slalom-Spezialistin sieht.
Michelle Gisin, was hat Sie am Leben als Olympiasiegerin überrascht?
Jetzt habe ich wirklich einmal verstanden, weshalb erfolgreiche Menschen völlig abheben können. Das war ein Augenöffner. Auf einmal wollen alle etwas von dir, und mit der Zeit störte es mich, dass ich nie einmal jemanden einladen darf. Alle sind so zuvorkommend. Das war mir unangenehm. So sehr, dass ich noch vor Ende eines Essens einmal bereits alles bezahlt habe. Als Olympiasiegerin bekommst du dieses und jenes, das ist wunderschön und mega lieb. Aber wenn du anfängst, das als normal zu betrachten...
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Was ist das Schwierige daran?
In dem Moment ist es eine Herausforderung, etwas zurückzugeben. Ich will ja auch danke sagen. Da sind Leute, die mich über Jahre unterstützt haben, als ich noch keine grossen Siege einfuhr. Ich hatte ja auch viel Glück, dass ich das erleben durfte. Wenn ich in der Abfahrt meinen Skiverschneider eine Kurve früher habe, liege ich im Netz. Und dann fahre ich tags darauf nicht die Kombi, gewinne kein Gold. Dann wäre ich zu Tode betrübt heimgereist. Das ist, was ich mit Luca und Marc sehe: Es braucht einfach das bisschen Glück, damit es aufgeht.
Sie sprechen Ihren Freund Luca und Ihren Bruder Marc an, beides Skirennfahrer, die noch nie auf dem Podium standen. Wie schwierig ist das in gewissen Situationen?
Es ist echt blöd. Luca trainiert mindestens so hart wie ich, und ich sehe das. Auch bei Marc. Es ist für mich sehr schwierig zu verstehen, weshalb das nun bei mir geht und bei ihnen nicht. Natürlich ist bei den Männern die Leistungsdichte höher, es ist härter. Aber was wirklich blöd ist: Wenn man irgendwohin kommt, sagen alle: «Ah, gratuliere, sensationell.» Und zu ihm: «Du müsstest jetzt auch mal Gas geben oder ins Ziel kommen.» Sie meinen das nicht böse, aber er hört es halt ständig. Das stört mich sehr. Für mich ist es nicht unbedingt die Leistung an diesem Tag, die zählt, sondern was man alles dafür tut. Aber natürlich muss das Rennen auch gefahren werden.
Wie gehen die beiden denn damit um?
Doof ist mehr der Aspekt mit den Sprüchen. Privat können sie sehr gut damit umgehen, glaube ich. Als ich nach Olympia wieder zu Hause war und wir gemeinsam mein Rennen anschauten, sagten sie: Hier hättest du das noch machen können und hier das. Ich sass da und sah zu, wie sie meine Abfahrt analysierten, und sagte: Ja, aber, Jungs, ich habe gewonnen! (lacht) Ich finde das wunderschön. Das hält einen auf dem Boden und hebt das Ganze nicht in eine völlig unrealistische Sphäre. Wir wissen, dass es nicht immer bei allen gut laufen kann.
Lara Gut-Behrami sagt, sie habe jetzt begriffen, dass es nicht nur Arbeit gebe, sondern auch ein Leben daneben. Wie haben Sie die Balance gefunden zwischen Privatleben und dennoch alles geben im Sport?
Mir wurde das von klein auf vorgelebt. Bei uns war der Sport nie Mittel zum Zweck. In unserer Familie fährt niemand Ski für den Erfolg, es ist in allererster Linie Leidenschaft. Ich liebe den Winter, am Morgen früh draussen zu sein, wenn alles glitzert und ein toller Trainingstag bevorsteht.
Sie haben ernsthaft auch Spass, wenn Sie keinen Erfolg haben?
Wenn ich nicht so gut fahre, ist es schwierig. Die Resultate sind zwar manchmal noch da, aber es ist dennoch frustrierend, weil ich spüre, dass ich mich verkrampfe. Das ist mir letzte Saison im Slalom passiert. Oft war ich im Slalomtraining unglücklich, weil ich merkte, ich bin am Knorzen. Seit ich in diesem Sommer das Timing wiedergefunden habe und auch technisch arbeiten konnte, ist die Freude wieder riesig. Es ist mir wirklich egal, ob ich nächsten Winter in den Top 15 oder Top 10 bin oder was auch immer es für Resultate geben wird – dieser Sommer war einfach ganz anders. Da ich alle Disziplinen fahre, finde ich die Freude immer irgendwo wieder. Dann ist es auch nicht schwierig, das Ganze nicht so ernst zu sehen. Am Ende ist es nur Skifahren.
Da ich alle Disziplinen fahre, finde ich die Freude immer irgendwo wieder
Sagt eine der skiverrückten Gisins!
Die kleine Schwester zu sein, ist manchmal schwierig, aber in vielen Dingen auch sensationell. Als ich zum ersten Mal im Regionalverband war, im C-Kader: Für die anderen war das eine Riesensache, für mich logisch. Ich habe gesagt: Mal schauen, der Weg ist noch weit. Als ich das erste Mal Weltcup fuhr, freute sich meine Familie natürlich, aber es war nicht: WELTCUP! (sie reisst die Augen auf.) Sogar der Olympiasieg – es war halt nicht das erste Mal in unserer Familie. Das relativiert die Dinge, gibt dir eine schönere und entspanntere Sicht auf das Ganze. Ich bin sehr dankbar, dass ich das erleben darf, aber am Ende des Tages ist es einfach Sport und ein sehr emotionaler und sehr schöner Job.
Dann leben Sie nicht in einer Blase, wie es im Spitzensport oft passiert?
Nein. Bei mir geschah vor zwei, drei Jahren der grosse Wandel, als ich begriff: Ich muss die Verantwortung für mich und meine Karriere übernehmen. Ich kann nicht einfach hinterherwatscheln und sagen: Jaja, das ist der Plan und das wird dann schon alles passieren. Damit das passiert, muss ich Entscheidungen treffen, und manchmal ist das sehr unangenehm. Auch weil ich ein sehr harmoniebedürftiger Mensch bin. Es wäre unkomplizierter, einfach zu machen, was von den Trainern geplant ist. Aber wenn ich spüre, dass für mich ein anderes Programm optimal wäre, dann muss ich es tun. Zum Beispiel allein Kondition trainieren oder noch zwei Tage mit den Speedfahrerinnen mitgehen. Und wenn es dann nicht läuft, ist es halt meine Schuld. Dadurch bin ich nicht in dieser Blase. Auch dank dem Familienmanagement, weil ich Kontakt zu den Sponsoren habe. Ich weiss, wie man eine Rechnung schreiben muss. Ich habe mir Selbstständigkeit erarbeitet, und die ist entscheidend. Dadurch war es auch möglich, im Speed so schnell nach vorn zu kommen.
Sie sagten vorher, es sei ja nur Skifahren. Ihr Leben besteht darin, von einem blauen Tor zu einem roten Tor zu fahren, dann wieder zu einem blauen... Stellen Sie sich manchmal die Sinnfrage?
Sehr oft, ja. Ich habe so etwas wie eine postsaisonale Depression (lacht). Nach der Saison hast du auf einmal nichts mehr zu tun. Bist nicht mehr in dem riesigen Mahlwerk zwischen Training und Rennen. Du hast den ganzen Tag Zeit, dich zu fragen, was du eigentlich den ganzen Winter gemacht hast. Sehr viel im Auto gesessen, zwischendurch von Rot zu Blau und von Blau zu Rot gefahren. Ja, damit kämpfe ich wirklich ab und zu. Dass ich mich frage: Sollte ich mit meinem Leben nicht etwas machen, mit dem ich vielleicht mehr für die Gesellschaft tun könnte?
Du hast den ganzen Tag Zeit, dich zu fragen, was du eigentlich den ganzen Winter gemacht hast. Sehr viel im Auto gesessen, zwischendurch von Rot zu Blau und von Blau zu Rot gefahren
Und?
Oft kommt dann der Gedanke, dass der Sport sehr viel für die Gesellschaft macht. Ich liebe es, an Sportevents dabei zu sein oder im Fernsehen zu schauen, das gibts gar nicht, wie viel ich mir ansehe. Das gibt den Leuten so viel! Selber denke ich: Jä guet, ob ich jetzt da runterfahre oder sonst jemand, das interessiert doch niemanden. Aber ich spüre es bei anderen Sportarten, es gibt dem Zuschauer Freude und Abwechslung, gemeinsam ein wunderschönes Fest. Ich suche also dort den Sinn.
Sie sind zu einer Allrounderin geworden, fahren alle Disziplinen. Ticken die Technikerinnen wirklich anders als die Speed-Fahrerinnen?
Ja, es ist ein riesiger Unterschied! Wenn Dominique Riesenslalom fuhr, hat sie mir immer gesagt: Bei euch herrscht so ein Stress, ein Ellbögeln. Ich wusste gar nicht, was sie meint. Ich fand es im Riesenslalom immer mega entspannt. Auf der technischen Seite herrscht eine Grundhektik.
Was heisst das genau?
Wenn in Levi um 7.30 Uhr Start der Einfahrläufe ist, stehen dort um 7.10 immer dieselben – ich auch – am Start bereit. Dabei geht es nicht vorher los. Um 7.20 sind praktisch alle Fahrerinnen am Start, dann wird geriegelt, und dann gehts los, täk, täk, täk, täk. Bei der Besichtigung wieder dasselbe: Wenn du nicht in den Top 20 bist, musst du den Moment erwischen, um überhaupt etwas zu sehen. Auch in der Team-Verpflegungszone musst du deinen Platz mit Händen und Füssen verteidigen. Das ist eine andere Welt, vor allem im Slalom.
Wie sieht es denn auf der Speedseite aus?
Dort wärmst du dich mit viel Ruhe ein auf dem Berg. Schwatzt mit ein paar anderen oder geniesst die Aussicht, zum Beispiel in Val-d’Isère. Dann wird mal der erste Vorlauf gefahren. Dann gehts auf die Besichtigung. Auch dort ist es sehr, sehr ruhig. Du hast Platz, kannst auch mal bei zwei Toren zügiger durchrutschen oder eine Kurve ausfahren. Es herrscht ein ganz anderer Rhythmus.
Weshalb ist das so?
Das habe ich mir lange überlegt. Viel hat mit dem Respekt vor der Materie und voreinander zu tun. In der Abfahrt ist es einfach gefährlich. Im Slalom fädelst du ein, und es passiert dir wahrscheinlich nichts, in der Abfahrt krachst du mit über 100 ins Netz. Man gibt einander genügend Platz, um sich vorzubereiten. Es herrscht die Ruhe, die entscheidend ist, dass du dich am Start vollkommen auf dich konzentrieren kannst. Es ist sehr beeindruckend, das zu erleben. Was spannend ist: Ich komme von einem Abfahrtsweekend ein bis zwei Kilo leichter heim als von einem technischen, was völlig nicht der Logik entspricht. Physisch ist der Slalom viel intensiver. In einer Speedwoche fährst du einmal pro Tag runter. Ich erkläre es mir damit, dass der mentale Anspruch und der Adrenalinausstoss so hoch sind, dass es mehr Energie braucht.
Im Slalom fädelst du ein, und es passiert dir wahrscheinlich nichts, in der Abfahrt krachst du mit über 100 ins Netz
Sie haben nach einem Kreuzbandriss einige Jahre lang keine Speedrennen bestritten, bis Ihre Schwester Dominique Sie wieder herangeführt hat. Was für eine Abfahrerin waren Sie vor dem Unterbruch?
Eine relativ ängstliche. Ich freute mich zwar auf die Speedkurse, aber war überhaupt nicht die, die sich Hals über Kopf den Berg hinunterstürzte. Das war von jung an so. Ich glaube, das lag eher an den Verletzungen von Dominique und Marc als an meiner. Ich stand immer mit sehr gesundem Respekt und manchmal auch etwas Angst oben. Das Ziel war, diese Angst in den Griff zu bekommen. Nicht zu verdrängen, das ist völlig die falsche Taktik. Sondern damit umzugehen und zu nutzen. Die Angst ist eine Chance, sie schützt. Es ist ja auch nicht normal. Streck mal bei 130 auf der Autobahn den Kopf raus. Und da gehts geradeaus, nicht alle paar Meter um die Ecke.
Wie haben Sie es geschafft, die Angst in den Griff zu bekommen?
Wenn ich einen Plan habe, ist die Angst nebensächlich. Sie und der Respekt sind zwar vorhanden, aber dann habe ich ja eine Lösung. Da kommt das rationale Denken zum Zug, das in unserer Familie vorhanden ist. Deshalb hilft mir Dominique so wahnsinnig: Sie spürt das genau und kann mir sagen: Hör mal, wenn du hier das machst, fühlt sich das so an und wirkt sich dort so aus. Dann kann sie mir Lösungen bieten. Wenn ich dann irgendwo einen Seich mache oder einfach mit Respekt komme, dann weiss ich, was ich machen muss. Wenn mir jemand etwas sagt, das ich mir vorstellen kann, dann kann ich es meistens auch gleich umsetzen.
Haben Sie ein Beispiel?
In Lake Louise standen wir bei der Besichtigung im Fallaway nach der Fishnet-Kurve fast am Netz unten. Dann sagte Dominique: Auch wenn du hierher kommst, im allerschlimmsten Fall, bleibst du einfach auf deinem Aussenski und fährst dort gerade nach hinten und leitest dort die Kurve ein. Und es kam so. Im ersten Rennen war ich schon fast ausserhalb der Piste. Ich war dort unten, habe es genau so gemacht, und wurde noch 8. Dass ich nicht im Netz landete, hatte unterbewusst sicher damit zu tun, dass ich eine Lösung hatte. Das ist der grosse Schlüssel bei mir, mit dieser Angst umzugehen und mich nicht einschüchtern zu lassen.
Wie haben Sie sich noch verändert in diesen vergangenen Jahren im Weltcup?
Ich schalte rechtzeitig einen Gang runter, höre auf meinen Körper. Und ich lasse mich nicht mehr verrückt machen wegen kleinen Sachen. Kürzlich habe ich zwar meinen Dress auch im Hotel vergessen, aber solche Dinge passieren mir nicht mehr die ganze Zeit wie früher. Da war ich auf einer ganz anderen Stufe meiner Karriere, aber auch des Lebens. Es ist schön zu sehen, wie viel man dazugelernt hat. Aber die Unbeschwertheit ist auch ein Riesenvorteil. Man muss sie zuerst verlieren, um sie auf einer anderen Stufe wiederzufinden. Anfangs ist alles wunderbar, dann bekommst du ein paar Mal auf den Deckel, und es ist nicht mehr alles wunderbar. Dann kommen die Zweifel. Der ganze Prozess, sich auf sein Urvertrauen zu berufen, damit die Unbeschwertheit wieder da ist, lief seither ab. Sehr langsam und, wie ich hoffe, beständig.
Ein Interview aus SI Sport