November 2014, 400 m ü. M. Mitten im aufstrebenden Quartier hinter dem Zürcher Hauptbahnhof liegt das Atelier von Mirjam von Arx, 48. Zwei Schnittpulte, ein Schneideraum, Berge von Festplatten, Ordnern, an den Wänden Filmplakate von «Virgin Tales», «Seed Warriors» und «Sieben Mulden und eine Leiche». Bisher hat sich die mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilmerin und Produzentin mit Musik befasst, mit Architektur, dem Phänomen der Messies oder, wie zuletzt, mit Keuschheit vor der Ehe. Bis das mit Herbert geschah.
Mirjam von Arx und Herbert Weissmann begegnen sich im Frühjahr 2010 im Netz auf einer Dating-Plattform. Die Liebe schlägt ein wie ein Blitz. Doch Glück und Unglück liegen bisweilen nah beieinander. In derselben Woche erhält sie eine Krebsdiagnose, kurz darauf steht bereits der Operationstermin fest. «Doch der Krebs erscheint mir auf eine bizarre Art sekundär. Ich liege im Spitalbett und bin glücklich.»
Die Zürcher Filmerin und der deutsche Ingenieur machen Pläne, wollen heiraten und für den Rest des Lebens zusammenbleiben. Drei Monate später ist er tot.
4. August 2010, 1200 m ü. M. Herbert Weissmann steht an der Kante der Absprungstelle «Yellow Ocean» im Lauterbrunnental BE, in einer der weltweit beliebtesten Basejump-Regionen, und blickt die 350 Meter hohe Felswand hinunter ins Tal. Sein Freund und erfahrener Basejump-Kollege Andi ist an seiner Seite und coacht ihn. Es ist Herbert Weissmanns 19. Sprung ins Nichts. Und sein letzter.
Über tausend Fallschirmsprünge hatte Herbert Weissmann absolviert, dann genügte ihm das nicht mehr. Basejumping, das ungleich gefährlichere Springen von Gebäuden, Sendemasten, Brücken oder Felsen, begann ihn zu fesseln. Für acht, neun, zehn Sekunden freien Fall riskieren die Extremsportler dabei ihr Leben. Allein dieses Jahr sind in der Schweiz bereits fünf Menschen auf der Suche nach dem ultimativen Adrenalinkick über Felsen in den Tod gesprungen.
Die Unglücksbotschaft erreicht Mirjam von Arx mitten in ihrer Chemotherapie. Trauer, Wut und Fassungslosigkeit sind grenzenlos. «Wie kann er sein Leben aufs Spiel setzen, während ich um meins kämpfe?» Zu ihrem Schmerz kommt die Angst, die Erinnerung an diese noch so frische, ungelebte Liebe zu verlieren. «Ich wollte alles festhalten. Die Beerdigung, das Memorial an der Absprungstelle, die erste Begegnung mit seiner Familie, seinen Freunden.»
So beginnt Mirjam von Arx, noch sichtlich von Bestrahlung und Chemotherapie gezeichnet, den Abschied von ihrem Herbert zu dokumentieren. Zwei Jahre lang sucht sie nach Antworten, reist immer wieder ins Lauterbrunnental, spricht mit der Polizei, seinen Eltern, besucht die Absprungstelle, konfrontiert Herberts Begleiter Andi mit ihrer Wut und Machtlosigkeit. Zum Schlüsselmoment wird eine Begegnung mit einem Basejumper, der die Philosophie der Extremsportler in dieselben Worte fasst wie von Arx’ Ärztin: «Verschiebe nicht mehr, was dir wichtig ist. Mach es jetzt.» Und so entwickelt Mirjam von Arx einen unbändigen Willen. «Überleben reichte mir nicht mehr. Ich wollte unbedingt das Glück noch einmal finden.»
Heute, vier Jahre danach, kommt «Freifall» in die Kinos. So dramatisch die Liebesgeschichte ist, der Film ist eine Ode ans Leben. Und er macht Mut. Denn Mirjam von Arx hat nicht nur den Krebs besiegt, sondern auch das gefunden, was sie sich so innig gewünscht hat. Eine neues Glück mit einem Mann, eine eigene Familie. Vor drei Monaten ist ihr zweites Kind zur Welt gekommen.
Im Kino: «Freifall - eine Liebesgeschichte», Regie: Mirjam von Arx, Länge: 83 Min.