Lachend, gestikulierend, manchmal ernst - wie zwei alte Freundinnen spazieren Kasandra De Leon, 17, und Michelle Halbheer, 30, durch den Winterthurer Stadtpark. Zwei junge Frauen, glücklich, sorglos, attraktiv, wie es sie zu Tausenden gibt, so scheint es. Aber diese beiden verbindet nicht nur Freundschaft, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Hinter ihrem Lachen verbergen die Zürcher Miss-Schweiz-Kandidatin Kasandra und die Buch-Autorin Michelle Narben. Seelische, aber auch körperliche. «Dass wir beide uns geritzt haben, ist nur eine von vielen Gemeinsamkeiten in unserer Vergangenheit.»
Michelles Schicksal berührte die Schweiz. Als Tochter einer drogenabhängigen Mutter, gefährdet, vernachlässigt, fremdplatziert und misshandelt, verarbeitete sie ihre traumatische Kindheit im Bestseller «Platzspitzbaby - Meine Mutter, ihre Drogen und ich». Sie wollte damit «Kindern, die Ähnliches erlebt haben, Mut machen». Und ihnen zeigen, «dass sie nicht allein sind». Genau dieses Ziel hat Michelle Halbheer bei Kasandra De Leon erreicht. «Für mich war die Lektüre dieser Biografie ein Wendepunkt. Ich begriff, dass ich nicht die Einzige mit diesem Schicksal bin. Und dass ich mein Glück selber in die Hand nehmen kann!»
Die Überschneidungen in ihren Lebensgeschichten sind frappant: Auch bei Kasandra sind Drogen und Gewalt seit frühester Kindheit präsent. Auch bei ihr laufen die Fremdplatzierungen schief: «Ich war in vielen verschiedenen Pflegefamilien und -heimen und hätte mich dort zu Hause fühlen sollen.» Aber nirgends klappt das, nirgends gehört sie hin, nirgends findet sie die Liebe, die sie braucht. Stattdessen Gewalt. «Ich war sicher kein einfaches Kind. Wie auch, mit meiner Vergangenheit? Irgendwann begann ich mich zu fragen: Warum mag man mich nicht? Weswegen schlägt man mich? Wieso schiebt man mich umher? Weswegen misshandelt man mich so?» Kasandra sucht die Schuld bei sich, bestraft sich mit Selbstverletzung. «Obwohl ich vorher nie verstanden habe, wie andere Jugendliche in meinem Umfeld sich ritzen können, waren mein Schmerz und meine Verzweiflung irgendwann so gross, dass ich die Selbstbestrafung als einzige Linderung empfand.»
Damals ist sie 14. Jetzt, drei Jahre später, hat Kasandra den Weg aus dem Teufelskreis gefunden. Auch dank Michelle Halbheers offenen Worten in ihrem Buch. Die Frauen haben seit einigen Monaten sporadisch Kontakt, und Michelle kennt Kasandras Geschichte «bis ins nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Detail». Sie weiss, welche Hürden ihre Leidensgenossin nehmen musste, um heute strahlend im Rampenlicht zu stehen. «Als ich hörte, dass Kasandra es unter die Miss-Schweiz-Finalistinnen geschafft hat, kamen mir die Tränen vor Freude und Stolz!» Zwar sei mit diesem Hoch nicht auf einen Schlag alles verarbeitet und vorbei - das Ritzen, von dem noch zahlreiche Narben an Kasandras linkem Arm zeugen, jedoch schon. «Ich habe andere Ventile gefunden: basteln oder Märchenkassetten hören.»
Nun will Kasandra Kindern und Jugendlichen, die in ähnlichen Verhältnissen aufwachsen müssen, helfen, ihr Schicksal zu bewältigen. «Ich träume davon, einmal einen Beruf im sozialen Bereich auszuüben.» Bis dahin setzt sich die Restaurationsfachfrau in ihrer Freizeit für Heimkinder ein. «Ich besuche regelmässig verschiedene Kinderheime und bringe statt Schoggi oder Geschenkli einfach Zeit und Liebe mit.» Und sie will ein Vorbild sein, so wie Michelle Halbheer es für sie war. «Dass ich es bei der Miss-Schweiz-Wahl so weit geschafft habe, soll diesen Kindern zeigen: Hört auf, an euch zu zweifeln, und beginnt, an euch zu glauben!»