Genau nach 364 Tagen kehrt Daniel Albrecht, 26, zum ersten Mal nach Kitzbühel zurück. An den Ort, den sein Leben für immer verändert hat. Schwermut kommt beim Walliser keine auf: «Ich mag Kitzbühel, nach wie vor.» Das mag auch daran liegen, dass Albrecht in Österreich eine Welle der Sympathie entgegenschlägt. Egal, ob Passant, Trainer oder Fahrer: Alle freuen sich, Dani wieder zu sehen. Sie schütteln ihm die Hand, klopfen auf seine Schulter, winken ihm fröhlich zu. «Das tut richtig gut», sagt er.
Daniel Albrecht, Sie haben ein Jahr gewartet, bevor Sie nach Kitzbühel gekommen sind. Hatten Sie Angst vor diesem Moment?
Nein. Es hatte ganz einfach keine Priorität für mich. Aber natürlich ich war gespannt darauf, zu sehen, wie ich auf die Begegnung mit diesem Ort reagiere.
Und wie ist es jetzt für Sie?
Ich fühle mich wohl hier. Ich merke, dass ich viele schöne Erinnerungen an diesen Ort habe. Kein Wunder, vom Unfall weiss ich ja eh nichts mehr (lacht).
Den meisten läuft es eiskalt den Rücken runter, wenn sie die Unfallstelle sehen.
Lustig, mir nämlich nicht. Ich finde den Zielhang extrem beeindruckend – doch nicht mehr oder weniger als vor einem Jahr. Aber ich war diesbezüglich schon immer etwas speziell. Wenn ich früher stürzte und es mir nicht zu fest weh tat, dachte ich oft: «Wow, das war jetzt irgendwie cool.»
Wie geht es Ihnen heute, ein Jahr nach dem Unfall?
Eigentlich gut. Sogar sehr gut. Ich lebe, bin gesund und kann auf hohem Niveau trainieren.
Was fehlt noch, damit Sie wieder ganz der Alte sind?
Hm, das ist kaum zu beantworten. Wenn mir etwas fehlt, weiss ich ja nichts davon und vermisse es auch nicht. Weg ist vor allem die Zeit, die mir genommen wurde. Für mich fühlt es sich an, als wäre der Unfall erst vor ein paar Wochen gewesen.
Obwohl ein Jahr vergangen ist?
Das weiss ich, weil mir der Kalender das sagt. Aber ich empfinde es nicht so. So gesehen ist ein Jahr meines Lebens gefühlsmässig nicht vorhanden.
Als Sie nach drei Wochen im Koma aufwachten, wussten Sie nicht mal mehr Ihren Namen. Haben Sie alle Erinnerungen zurückgewonnen?
Ja, die Erinnerungen sind wieder da, und ich weiss auch wieder, wie ich damals gefühlt und gedacht habe. Trotzdem fehlt irgendwie die Verbindung zum Leben vor dem Unfall.
Wie meinen Sie das?
Es ist so, als würde ich das Leben eines anderen betrachten. Ich vergleiche es gerne mit dem Ansehen eines Films: Ich leide und fühle mit den Schauspielern. Aber irgendwann vergesse ich den Film wieder, weil es ja nur eine Geschichte ist. Und so fühlt sich das auch mit meinen Erinnerungen an. Ich weiss, dass ich Weltmeister war. Und ich weiss noch, wie stolz ich mich fühlte. Aber die Erinnerung gehört trotzdem nicht zu meinem Leben.
Das muss schmerzhaft sein.
Gerade in der Zeit vor dem Unfall hatte ich so viele Pläne und Ziele. Und jetzt ist die Zeit einfach weg. Manchmal entsteht in mir eine Leere, und ich denke: «Mann, jetzt bist du 26 und hast noch nichts erreicht und erlebt.»
Gelöscht waren nach dem Unfall nicht nur Ihre Erinnerungen, sondern auch die Gefühle für Ihre Mitmenschen.
Am Anfang nahm ich nur wahr, ob jemand gut für mich ist oder nicht. Wenn ich etwas brauchte, und diese Person konnte mir helfen, dann war sie gut. Mehr war da nicht.
Und für Ihr Umfeld empfinden Sie jetzt die gleichen Gefühle wie früher?
Das war ein Prozess, in den ich viel Zeit investiert habe. Wen mag ich? Wen mag ich nicht? Diese Frage habe ich mir immer wieder gestellt. Manche Patienten, die das Gleiche hatten wie ich, haben sich von ihren Familien getrennt, weil sie ihnen plötzlich fremd waren. Bei mir war das zum Glück nicht so. Offensichtlich habe ich früher gut ausgesucht (lacht).
Sie haben sich also auch wieder in Ihre Freundin verliebt?
Ich liebe sie. Aber tue ich das, weil ich sie schon vorher geliebt habe? Oder habe ich mich frisch verliebt? Das kann ich nicht unterscheiden. Was ich weiss: Sie hat sich unglaublich gut um mich gekümmert, war immer für mich da, wenn ich etwas brauchte.
Finden Sie in all dem auch positive Aspekte?
(Lacht) Na klar, ich kann jetzt jederzeit die Narrenkappe aufsetzen. Wenn mich das nächste Mal jemand um ein Interview auf Französisch bittet, sage ich: «Sorry, das kann ich nicht, ich hatte einen Unfall.»
Ihren Humor haben Sie offensichtlich wieder. Ist das Thema nicht zu ernst, um Witze darüber zu machen?
Im Gegenteil, oft hilft es. Manche Menschen wissen nicht, dass sie sich mir gegenüber völlig normal verhalten können. Und das verunsichert mich dann ebenfalls. Erst ein Witz oder ein Spruch entkrampft die Situation. Mühsam ists, wenn ich etwas Falsches sage und die Leute um mich herum betreten auf den Boden schauen und sich nicht trauen, mir das zu sagen.
Sie wollen trotz allem wieder Ski-Rennfahrer sein. Was sagt eigentlich Ihre Familie dazu?
Für sie ist es sicher recht schwierig. Meine Eltern erhalten auch immer wieder Job-Angebote für mich oder zeigen mir Alternativen auf. Aber ich bin 26 Jahre alt und treffe meine eigenen Entscheidungen.
Denken Sie, dass Sie den Anschluss nochmals schaffen?
Natürlich ist eine gewisse Unsicherheit da. Doch als Junior wusste ich ja auch nicht, ob ich Weltmeister werden würde – und habe den Weg trotzdem verfolgt. Ich glaube daran, dass ich es schaffen kann, das ist sehr wichtig für mich. Ob in einem oder zwei Jahren ist sekundär.
Jubeln Sie vor dem TV, wenn Ihre Teamkollegen gewinnen, oder ärgert es Sie, dass Sie nicht dabei sein können?
Beides. Natürlich freue ich mich für die Jungs. Aber wir hatten im vergangenen Jahr heisse Kämpfe um den Status der Nummer eins im Team. Und wenn ich jetzt sehe, dass die anderen Rennen gewinnen, denke ich: «Mist, dort könnte jetzt ich stehen!»
Wie viel fehlt, damit Sie wieder mitfahren können?
Ich würde sagen, dass ich zeitlich schon ziemlich weit bin. Aber ich werde in dieser Saison trotzdem keine Rennen mehr fahren, weil ich nichts riskieren möchte.
Sie machen laufend immer noch Fortschritte?
Ja, nur die Schritte werden kleiner, je weiter ich komme. Und manchmal merke ich es selbst nicht mehr, ob ich vorwärts gehe oder an Ort trete. Am Anfang führte ich einen Kampf für die Verbesserung. Inzwischen ist es ein Kampf gegen die Ungewissheit. Ich kämpfe und arbeite. Ob es am Ende wirklich reichen wird, weiss niemand. Aber ich werde es herausfinden.
Haben Sie so etwas wie einen fixen Plan?
Für das, was ich möchte, gibt es keinen Plan. Das hat noch nie jemand probiert. Es gibt so viele Fragen, die mir niemand beantworten kann: Wie viel Training ist gut für mich? Wie viel Erholung brauche ich? Und wann muss ich was tun? Ich habe deshalb einen Entschluss gefasst: Ich mache jetzt meinen eigenen Plan und ziehe das durch. Wenn mir jemand helfen will, bitte. Wenn nicht, auch gut.
Sie kämpfen nicht um ein Comeback, sondern um eine neue Karriere?
Genau. Wenn ich es nochmals in den Weltcup schaffe, fange ich bei null an. Und wenn ich dann in einem Rennen 15. werde, soll mir bloss keiner auf die Schultern klopfen. Meine Ansprüche sind die gleichen wie früher.
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- Daniel Albrecht Interview nach Unfall
Von Alejandro Velert am 28. Januar 2010 - 14:04 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 19:26 Uhr