Rot gilt in Indien als Farbe des Glücks. Als Bundesrat Ignazio Cassis, 57, bei Sonnenaufgang in Varanasi dem Ganges entlanggeht, bekommt er von einem Hindu einen roten Punkt auf die Stirn gemalt. «Er symbolisiert die Erleuchtung», erklärt ihm der Bewohner der heiligsten Stadt Indiens. «Wunderbar, dann klappt es ja doch noch mit dem Rahmenabkommen», sagt Cassis und lächelt.
Seit zehn Monaten amtet der Tessiner als Aussenminister. In dieser Zeit hat der ehemalige FDP-Fraktionschef für einige Irritationen und Kritik gesorgt. Etwa mit seiner Aussage, das Uno-Hilfswerk für Flüchtlinge in Palästina erschwere den Frieden in Nahost. Oder indem er den Mechanismus des Lohnschutzes bei den flankierenden Massnahmen hinterfragte.
Cassis kann Kritik einstecken
Auf seiner Reise zur Feier der 70-jährigen Freundschaft zwischen der Schweiz und Indien wirkt Cassis allerdings alles andere als angespannt. Selbst dann nicht, als er nach seiner Rede auf der Schweizer Botschaft in Delhi erfährt, dass namhafte Aussenpolitiker Bundespräsident Alain Berset als Verhandlungschef des Rahmenabkommens fordern. «Immer wenn es Schwierigkeiten gibt, tauchen Ideen und Vorschläge auf. Das ist normal in einer Demokratie», sagt Cassis. Mit Kritik könne er gut umgehen. Sie sei für ihn Teil eines offenen Dialogs. «Ich würde meine Aussagen zum Flüchtlingswerk und dem Lohnschutz telquel wiederholen.»
Für ihn bedeute Politik, die Probleme auf den Tisch zu bringen. «Diskussionen zu provozieren, gehört dazu. Nur so kommt man vorwärts.»
Seine Lust an der Debatte wird beim Abendessen mit Vertretern von Roche, Migros und anderen Schweizer Institutionen in Delhis Altstadt deutlich. Nach einem höflich zurückhaltenden Gespräch mischt Cassis die Runde mit dem Zitat des englischen Politikers Winston Churchill auf: «Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von allen anderen.»
«Es amüsiert mich, dass ich die Medien verunsichere»
Das sorgt kurz für Stirnrunzeln, doch dann folgt eine angeregte Diskussion über Vor- und Nachteile der grössten Demokratie auf der Welt. Mit einem zufrieden lächelnden Schweizer Aussenminister in der Mitte. «Es amüsiert mich, dass ich die Medien verunsichere», sagt Cassis. Dies sei schon im Wahlkampf so gewesen, als ihn die NZZ als «knallharten Softie» beschrieben hat. «Sie haben Mühe, mich einzuordnen, weil ich Tessiner bin.»
Er sei von Natur aus etwas extrovertiert, habe keine Berührungsängste im Gespräch und denke gerne auch mal laut. «Das ist meine italienische Kultur.» Bei den offensiven und neugierigen Indern kann Cassis mit seiner Art punkten. In der Freitagsmoschee in Old Delhi kniet er auf den Boden, um den Marmor zu fühlen. Daraufhin zeigt ihm der Reliquienwächter begeistert das Barthaar des Propheten Mohammed. «Es wächst immer noch – und zwar nach oben!»
In der Industriestadt Noida nimmt sich Cassis trotz feucht-heissen 35 Grad Zeit, um sich das vom Schweizer Stararchitekten Mario Botta entworfene hitzeabweisende Bürogebäude der Firma Tata erklären zu lassen. «Ich kenne Mario auch privat. Er hat die Tessiner Architektur in die Welt transportiert!»
«Ich bin kein Diplomat, sondern Politiker»
Seine Rolle als Aussenminister definiert Cassis klar: «Ich bin kein Diplomat, sondern Politiker.» Beim Treffen mit der indischen Aussenministerin Sushma Swaraj, für die selbst der 170 Zentimeter kleine Gast bei der Begrüssung in die Knie gehen muss, versucht er deshalb, neben der Freundschaft der beiden Länder den Abschluss des Freihandelsabkommens voranzutreiben. «In den vergangenen Jahren hat man zu wenig gespürt, was die Schweiz in der Aussenpolitik macht.» Das wolle er ändern. «Aussenpolitik soll wieder dazu dienen, die Ziele der Schweiz zu erreichen.»
Schon vor zehn Jahren weibelte Cassis als Delegationspräsident der Europäischen Freihandelsassoziation in Indien für das Freihandelsabkommen. Damals begleitete ihn seine Frau Paola, 55, und die beiden reisten weiter nach Agra, um den Taj Mahal zu sehen. «Fremde Kulturen zu entdecken, ist unsere Leidenschaft», sagt der ehemalige Tessiner Kantonsarzt, der mit der Radiologin seit 26 Jahren verheiratet ist. Im Haus des kinderlosen Ehepaars («es wollte nicht klappen») in Montagnola TI stehen Souvenirs aus aller Welt.
So unbeschwert wie damals reist Cassis heute als Bundesrat nicht mehr. Zwar probiert er auch bei seinem offiziellen Indienbesuch auf dem Gewürzmarkt von Old Delhi Kichererbsen oder beobachtet das Fest zu Ehren des Hindugottes Vishnu – allerdings streng bewacht von zahlreichen Polizisten.
«Ich liebe meinen Job als Bundesrat. Das Leben hat sich aber sehr verändert.» Grosse Augen machte er, als ihm Bundespolizei-Beamte bei seiner abendlichen Joggingrunde an der Aare nachrennen wollten. «Da fühle ich mich doch verfolgt», scherzt er.
Cassis hat Faszination für die Suche nach dem Nirwana
Die nachdenkliche Seite von Frohnatur Cassis, der problemlos einen Abend lang eine Tischgesellschaft unterhalten kann, kommt am letzten Tag seines Indienbesuchs zum Vorschein. Nach der Besichtigung des Pilgerortes Sarnath, wo Buddha seine erste Predigt gehalten haben soll, sagt Cassis: «Mich fasziniert die Suche nach dem Nirwana, nach der Perfektion.» Er habe in seinem Leben auch viel gesucht, seinen katholischen Glauben, seine Wertvorstellungen hinterfragt. Mit dem Älterwerden habe er aber gemerkt, worauf es ankomme. «Zeit, Zuwendung, Liebe.»
Dass er als Bundesrat zu wenig Zeit hat, ist ihm bewusst. «Ich versuche aber, so viele Stunden wie möglich mit meiner Frau und meinen Liebsten zu verbringen.» Statt seiner Mutter eine neue Kaffeemaschine zu schenken, besuche er lieber mit ihr ein Dorfkonzert.
Vor dem Abflug zurück in die Heimat lädt der Schweizer Botschafter Andreas Baum Bundesrat Cassis noch dazu ein, einen Abendgottesdienst am Ganges in Varanasi zu verfolgen. Hierher pilgern die Hindus, um zu sterben – in der Hoffnung, dem ewigen Kreis der Wiedergeburt zu entkommen.
Man erntet, was man sät
«Ich glaube nicht an Wiedergeburt. Aber daran, dass wir ernten, was wir säen.» Dann zündet Cassis eine Blumenkerze an und schickt sie den Fluss hinab. Für jede Kerze darf man sich etwas wünschen, sagen die Inder. Seinen Wunsch will der Aussenminister nicht verraten. Nur so viel: «Mit dem Rahmenabkommen hat er nichts zu tun.»